Kommentar:Neues, altes Wirtschaftsmodell

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Die alte Wachstumsdefinition reicht nicht mehr. Die Umwelt muss zählen. Eines darf jedoch bei der Neubesinnung nicht infrage gestellt werden: das freie Wirtschaften.

Von Marc Beise

Der Spätherbst ist da und damit die Zeit wichtiger Parteitage. Während die großen Regierungsparteien CDU und SPD mehr um Personen als um Inhalte zu ringen belieben, wollen die oppositionellen Grünen ihren Parteitag am Wochenende in Bielefeld dazu nutzen, sich für die kommenden, entscheidenden Jahre inhaltlich zu positionieren, personeller Knatsch war früher. Robert Habeck, der Mann an der Spitze der Partei, wird bereits mancherorts als neuer Bundeskanzler gehandelt, wenn es den Grünen bei der nächsten Wahl gelingen sollte, die CDU zu überflügeln - was erstmals seit der Gründung der Öko-Partei vor 40 Jahren keine Utopie mehr ist. Und selbst wenn es nicht dazu kommt, ist es gut möglich, dass die Grünen als Partner auf Augenhöhe in eine CDU geführte Bundesregierung eintreten würden.

Es ist deshalb von Bedeutung, wenn die Frau an der Spitze der Grünen, Annalena Baerbock, jetzt eine seit Jahren vor sich hinköchelnde Diskussion über die Definition von Wohlstand in einem Industrieland wie Deutschland ins Rampenlicht schiebt. "Am besten wäre es", sagte sie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, "das Bruttoinlandsprodukt auf europäischer Ebene durch einen Wohlstandsindex zu ergänzen", und das sei doch eine schöne Aufgabe für die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die die Nachhaltigkeit ins Zentrum rücken will, und die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr. Kriterien wie Einkommensverteilung oder der Umwelt- und Ressourcenverbrauch könnten neben die klassischen - auf Wachstum fixierten - Parameter treten.

CDU und SPD streiten übers Personal, die Grünen diskutieren die richtige Wirtschaftspolitik

Das ist eine sinnvolle, wenngleich komplizierte Debatte - in der Tat greift das bisherige Wachstumsmodell heute zu kurz. Beliebtes Beispiel sind die Autounfälle, die sich im nassen und kalten Winterhalbjahr wieder häufen. Je mehr es davon gibt, desto mehr Autos werden repariert oder ersetzt, und also steigt das Bruttosozialprodukt. Das ist auch keine falsche Zuordnung, denn es wird ja produziert und Geld verdient, Menschen haben Jobs - und trotzdem wäre ein Land, in dem es keine Unfälle mehr gäbe, ein besseres Land. Dahinter steht die größere Frage, ob es nicht an der Zeit ist, das Wirtschaftsmodell, das Deutschland in der Summe so viel Wohlstand beschert hat, zu durchdenken.

Hier gibt es sehr weitreichende Positionen wie die Degrowth-Bewegung, die dem Wachstum abschwört. Das würde, kurz gesagt, den Wirtschaftsstandort Deutschland extremen Verwerfungen, Ungerechtigkeiten und Härten unterziehen und wäre gar nicht mehrheitsfähig. Wohl aber muss man sich Gedanken machen, ob und wie die bisherigen Prinzipien angesichts der dramatischen Umweltprobleme und der fundamentalen Neuordnung der Welt durch die Digitalisierung angepasst werden müssen. Wenn Politik und Wirtschaft sich dazu via Wachstumsdefinition Gedanken machen, gut so: Wie muss das System aussehen, das nicht nur heute Wohlstand für viele generiert, sondern das Leben in Deutschland und der Welt auch in 30, 50, 100 Jahren noch lebenswert macht?

Eines jedoch empfiehlt sich bei dieser Neubesinnung ganz und gar nicht, auch wenn dies verstärkt geschieht: das freie Wirtschaften grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Marktwirtschaft, zumal in der deutschen, sozial eingekleideten Form, hat sich im Systemwettbewerb des vergangenen Jahrhunderts eindeutig und nachhaltig als das stärkere Modell erwiesen (inwieweit China erfolgreich einen anderen Weg geht, muss sich noch zeigen). Insofern wäre also ein erneuertes Wirtschaftssystem auch grundsätzlich das alte - indem es nämlich auf die Kreativität des Markts und seiner Millionen Teilnehmer setzt.

© SZ vom 12.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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