Kommentar:Lob dem Nylon

Lesezeit: 3 min

Mehr als die Hälfte der Plastiktüten sollen bald etwas kosten. Das ist gut so. Der Umwelt ist aber nur gedient, wenn viele die richtige Alternative nutzen.

Von Michael Kläsgen

Ob der Natur mit dieser Selbstverpflichtung geholfen sein wird und ob weniger Tiere an Plastikpartikeln verenden - das wird sich, wenn überhaupt, erst in Jahren feststellen lassen. Das klingt unbefriedigend, ist aber so. Dafür lässt sich schon jetzt sagen: Die Vereinbarung, wonach von Juli an 3,6 Milliarden von insgesamt gut sechs Milliarden Plastiktüten etwas kosten, kann durchaus dazu dienen, die Umwelt zu schonen und Tierleben zu retten. Aber nur unter einer Voraussetzung: Wenn alle ihr Verhalten ändern und an der Ladenkasse dankend abwinken, wenn ihnen eine Plastiktüte gereicht wird. Egal, ob sie was kostet oder nicht. Das wiederum setzt voraus, dass man mitdenkt und zum Beispiel eine zusammenfaltbare, jahrelang verwendbare stabile Nylontasche bei sich trägt.

Die Vereinbarung kann daher nur ein erster Schritt hin zu einer saubereren Umwelt sein. Sie gibt bestenfalls den Impuls , Menschen dazu zu bewegen, beim Einkauf eine eigene Tasche dabeizuhaben. Denn der Umwelt ist nicht allein dadurch gedient, dass mehr als die Hälfte aller Plastiktüten kostenpflichtig werden.

Im Gegenteil. Hierin liegt vielmehr die Gefahr der Selbstverpflichtung. Dass nämlich die Kunden glauben, mit dem Tüten-Obulus ein gutes Werk zu tun. Das ist natürlich nicht der Fall. Die Einnahmen fließen vielmehr in die Taschen des Einzelhandels. Im schlimmsten Fall kauft sich die Industrie mit dieser Vereinbarung von ihrer ökologischen Verantwortung frei - und verdient auch noch dabei.

Alle Erfahrungsberichte sprechen allerdings gegen diese Befürchtung. Die breite Mehrheit der Deutschen befürwortet es, für Plastiktüten zu zahlen. Das zeigt sich nicht nur in Umfragen, sondern auch in der Praxis: In Läden, die bereits eine Abgabe kassieren, wie C&A oder Media-Saturn, sank die Nachfrage um 50 bis 80 Prozent. Das Ziel ist erreicht. Der Verbrauch sinkt rapide, und zwar, ohne dass der Gesetzgeber einen Mindestpreis vorgegeben hätte. Es geht also auch ohne strikte, wie teils im Ausland praktizierte staatliche Vorgaben. Solange dies in Deutschland so ist, kann die Regierung auf strengere Regeln verzichten. Falls sich jedoch erweisen sollte, dass die Industrie es nicht selber schafft, das Plastiktüten-Aufkommen nennenswert zu verringern, muss sie sich vorbehalten, per Gesetz entweder einen Mindestbetrag oder sogar ein Verbot auszusprechen.

Nachdenklich muss stimmen, dass viele Ketten und Kaufhäuser ernsthaft überrascht davon waren, wie verständnisvoll die meisten Kunden darauf reagierten, dass die Tüten jetzt was kosten. Da stellt sich die Frage, wie schlecht manche Einzelhändler ihre Kunden kennen oder für wie unmündig sie diese halten. Ein guter Verkäufer, sollte man meinen, antizipiert verändertes Kundenverhalten. Viele Ketten hätten sich daher offensiv ein umweltfreundlich-modernes Image geben können, indem sie von sich aus Plastiktüten aus ihren Geschäften verbannt hätten.

Dass viele von ihnen statt Plastik- nun Papiertüten oder Jutetaschen verkaufen wollen, ist ein bedauerlicher Nebeneffekt der Regelung. Denn diese sind für die Umwelt auch nicht unbedingt besser als die Kunststoffvarianten. Die Politik müsste an dieser Stelle viel aktiver aufklären, und zwar Verbraucher und Händler. Dass kompostierbare Tüten keine im Alltag praktizierbare Lösung bieten, obwohl das Wort "kompostierbar" darauf hindeutet, muss man erst einmal wissen. Und dass sich herkömmliche Plastiktüten nicht dazu eignen, in den Mülleimer gesteckt und mit Haushaltsmüll gefüllt zu werden - wer soll das wissen? Ein paar praktische Tipps, zum Beispiel in Form einer Informationskampagne, wären da durchaus wünschenswert.

Das wahre umweltpolitische Problem der Zukunft sind die Berge von Verpackungsmüll

Zu viel Aufhebens um die Plastiktüte sollte man aber auch nicht machen. Schon jetzt nimmt das Thema einen Platz ein, der ihm streng genommen nicht gebührt. Ohne Plastiktüte auszukommen, kann zwar für jeden, der will, das Ideal sein. Aber es bewirkt wenig, wenn anderswo Müllberge entstehen: Immer mehr Menschen bestellen online alles Mögliche und lassen es sich nach Hause oder ins Büro liefern. An manchem Arbeitsplatz stapeln sich Kartons; wer sich Essen liefern lässt, erhält scheinbar gratis Verpackungsmüll dazu. Derweil stauen sich in den Straßen die Lieferwagen.

Nicht die Plastiktüten, sondern die Müllberge und Abgas-Emissionen sind das wahre umweltpolitische Problem der Zukunft. Der Onlinehandel wird weiter wachsen, während die Plastiktüte ohnehin ein Auslaufmodell ist. Der breiten Öffentlichkeit scheint das (noch) egal zu sein. Die Politik traut sich womöglich auch deshalb nicht an das wirklich drängende Thema heran.

© SZ vom 27.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: