Kommentar:Keine Zeit für Geschenke

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Das deutsche Rentensystem muss umgebaut werden, damit künftige Senioren nicht verarmen und alles bezahlbar bleibt. Doch statt ihre Aufgaben für morgen zu erledigen, buhlen die Politiker mit teuren Geschenken um die Wählerstimmen von heute.

Von Alexander Hagelüken

Seit die Bundesregierung den Schleier über die nähere Zukunft gelüftet hat, gibt es Gewissheit. Die Warnung, bisher nur von Forschern zu hören, trägt nun sozusagen ein offizielles Siegel: Wenn nichts geschieht, wird sich die Alterung der Gesellschaft in den nächsten Dekaden dramatisch auf die Renten auswirken. Heute bekommt ein Senior, der früher durchschnittlich verdiente, 48 Prozent dessen, was Arbeitnehmer im Schnitt verdienen. In knapp 30 Jahren ist die Standardrente nach der aktuellen Prognose der Bundesregierung auf 41,5 Prozent geschrumpft.

Plastisch wird die Entwicklung durch eine dritte Zahl: Vor knapp 30 Jahren waren es noch 57 Prozent. Das bedeutet: Binnen zweier Generationen löst sich das Versprechen in Luft auf, dass die gesetzliche Rente nach einem harten Arbeitsleben den gewohnten Lebensstandard sichert, in dem sie mit den Löhnen Schritt hält. Das droht jedenfalls jenen, die ihre Altersbezüge nicht ausreichend durch Vorsorge ergänzen. Und das sind viele. Jeder zweite Deutsche kann Zuschüsse für einen Riester-Vertrag beanspruchen. Aber nur jeder Sechzehnte spart auf diese Weise genug, um seine Rentenlücke zu kompensieren.

Das Versprechen, dass es ein Deutscher im Alter schon komfortabel haben wird, ist nichts Beliebiges. Es gehört zum Kern des Gesellschaftsvertrags, der die Republik am Laufen hält: Arbeite, dann kannst du anständig leben und den Ruhestand genießen. Wie viel Geld einer im Alter hat, hat mehr Bedeutung als früher: Wer heute aus dem Beruf ausscheidet, lebt noch 20 Jahre. Also fast um die Hälfte länger als Senioren von 1960.

Das Alterssystem hält die Gesellschaft zusammen - oder spaltet sie, wenn es nicht funktioniert. Deshalb erstaunt es kaum, mit welchem Furor seit dem Frühjahr Politiker debattieren, wie sich das System verändern lässt. Wie zu häufig kümmern sich einige Politiker aber nicht darum, welche Aufgaben sie langfristig erledigen müssen. Sie versuchen kurzfristig bei den nächsten Wahlen zu punkten, indem sie der personalstarken Gruppe bestehender und baldiger Senioren neue Versprechen machen. Ein trauriges Beispiel dafür stellt die Forderung von CSU-Chef Horst Seehofer dar, die Altersbezüge von Müttern früher geborener Kinder weiter aufzustocken.

Verantwortungsvoll wäre etwas ganz anderes: Den Blick auf jene Menschen zu richten, die politischen Einsatz wirklich nötig haben. Das sind die Arbeitnehmer, die nach 2030 in den Ruhestand gehen - und jene Arbeitnehmer, die da noch arbeiten. Weil dann der berufliche Abschied der Babyboomer das System bis an seine Grenzen fordert. Weil dann bald nur noch eineinhalb Arbeitnehmer einen Rentner finanzieren müssen. 1950 lag das Verhältnis bei sechs zu eins.

Ein Alterssystem, das die Gesellschaft zusammenhält, statt sie zu spalten, braucht zweierlei. Erstens ein Mindestniveau der Rente, um einen gewissen Lebensstandard zu sichern. Die bisher vorgeschriebenen 43 Prozent sind eine Orientierung, mehr wäre gut. Zum zweiten dürfen die Beiträge der Arbeitnehmer nicht stark steigen. Schon heute bezahlen ein Beschäftiger und sein Arbeitgeber bis zu 1150 Euro im Monat in die Rentenkasse. Dazu kommt ein riesiger Steuerzuschuss für das Alterssystem. Würde man die Standardrente einfach auf dem heutigen Niveau einfrieren, stiege der Beitrag auf über 26 Prozent. Das sprengt das System.

Um ein Mindestniveau und gleichzeitig ertragbare Beiträge zu sichern, braucht das Alterssystem vier stabilisierende Maßnahmen. Zum einen sollte die Regierung die Riester-Rente durch Standardprodukte reparieren, durch die Sparer auch von Aktien-Renditen profitieren, ohne dass der Anbieter zu viele Gebühren abkassiert. Zum zweiten sollte die Regierung die Rentenversicherung zu einem Solidarmodell erweitern, in das auch Selbständige und Beamte einzahlen, die bisher keinen vergleichbaren Beitrag leisten. Zum dritten werden die Deutschen nicht darum herumkommen, länger zu arbeiten, wenn sie immer länger leben. Schon jetzt möchten viele Ruheständler zumindest teilweise weiter tätig sein, werden aber durch Gesetzgeber und Firmen behindert statt gefördert. Und viertens muss die Bundesregierung die jüngsten Geschenke für die gut versorgte aktuelle Seniorengeneration zurücknehmen. Allein Rente mit 63 und Mütterrente verschlingen Milliarden, die für kommende Senioren benötigt würden - auch für jene mit ungeraden Lebensläufen.

Es ist zu hoffen, dass sich das neue Rentenkonzept von Sozialministerin Andrea Nahles entlang dieser Linien bewegt. Ansonsten kommen auf Arbeitnehmer und Rentner von morgen schwere Zeiten zu.

© SZ vom 10.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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