Kommentar:Im Rausch der Pillen

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In der Pharmabranche folgt eine Übernahme auf die andere. Das hat mit dem Drang nach Größe zu tun - und mit der aufwändigen Entwicklung von Medizin: Wer keinen Erfolg in der Forschung hat, kauft einfach ein Unternehmen zu.

Von Helga Einecke

Boehringer Ingelheim gehört Familien, die im Ruf stehen, nicht alles zu kaufen, was zu haben ist. Diese Eigentümer wägen ab, wie sie ihr Vermögen einsetzen. Nun aber machen die Familien doch mit beim großen Fusions- und Übernahmekampf in der Pharmabranche - und lassen sich auf ein Tauschgeschäft mit dem französischen Sanofi-Konzern ein: Boehringer übernimmt die Tiermedizin der Franzosen, diese erhalten im Gegenzug die rezeptfreien Medikamente von Boehringer. Die Konzerne konzentrieren sich also auf ihre jeweiligen Stärken.

Aus Sicht beider Unternehmen hat dieser Tausch Sinn. Denn zum einen fällt so ein lästiger Wettbewerber weg, zum anderen schieben sie sich in jenem Segment des weltweiten Pharmamarkts, in dem sie stark sind, weiter nach oben. Das ist das eigentliche Ziel, das Leitmotiv aller Unternehmen - egal, was sie herstellen. Sie wollen zu den zehn, besser: den drei größten Anbietern in ihrem Bereich gehören. Weil die Großen sich auf bestimmte Bereiche konzentrieren, profitieren zugleich die Nischenanbieter, die Champions im deutschen Mittelstand.

Wer in der Forschung nicht genug Erfolg hat, kauft einfach ein anderes Unternehmen auf

Doch trotz aller Übernahmen und Fusionen: Die Marktmacht von Pharmaunternehmen bleibt - wenn man andere Wirtschaftsbereiche als Vergleich heranzieht - relativ begrenzt. Die einzelnen Märkte sind nämlich sehr zersplittert. Kein Hersteller schafft es dauerhaft, einen Weltmarktanteil von mehr als zehn Prozent zu erlangen. Der medizinische Fortschritt und die Datenflut werfen alte Strukturen in der Pharmaindustrie immer wieder über den Haufen. Außerdem locken in der Gesundheitsindustrie hohe Erträge, sodass neuerdings branchenfremde Unternehmen wie Google mitmachen wollen.

So verändert sich die Pharmaindustrie derzeit in hohem Tempo. Bei den rezeptfreien Medikamenten haben sich gerade die Schweizer Novartis und die britische Glaxo mit einem Gemeinschaftsunternehmen nach vorn geschoben, gefolgt von Bayer nach einer Übernahme von der amerikanischen Merck. Pfizer schließt sich mit Allergan zusammen, eine der größten Übernahmen der Wirtschaftsgeschichte, und spart dabei sehr viel Steuern. Und nun also: Sanofi und Boehringer.

Rezeptfreie Medikamente spielen dabei in der Branche eine wichtige Rolle. Schmerztabletten, Allergiesprays, Sonnenmittel, heilende Cremes werden verkauft wie andere Markenprodukte auch. Die Grenze zu Lebensmitteln verwischen, etwa bei Vitaminpräparaten. Der umworbene Verbraucher entscheidet, ob er zum Aldi oder zur Apotheke geht. Gilt dagegen die Rezeptpflicht, unterliegen die Hersteller strengen staatlichen Kontrollen.

Jedes Land stellt dabei andere Hürden für Zulassung, Produktion und Vermarktung dieser Medikamente auf. Diese Arzneien aber bleiben die Kernkompetenz der meisten großen Pharmaunternehmen, ob sie Bayer, Boehringer oder Roche heißen. Wird ein neuer Wirkstoff patentiert, können die Unternehmen davon lange leben und hohe Gewinne erzielen. Der Weg bis zum Patent und zum Patienten kann allerdings mit vielen Flops gepflastert sein. Wer zu wenig Kompetenz oder Fortune beim Forschen hat, kauft deshalb einfach andere Hersteller auf - ein schlichtes Modell, aber in den USA gern praktiziert. Etwa vom Konzern Pfizer, der sich durch Übernahmen jung hält.

Die Exklusivität der Patente lädt die Unternehmen dazu ein, ihre marktbeherrschende Stellung bei einem Medikament zu missbrauchen, wie jüngst bei den überhöhten Preisen für ein neues Mittel gegen Hepatitis C. Bei den rezeptpflichtigen Medikamenten sollten Staat oder Krankenkassen deshalb als Sachwalter der Patienten das Heft in der Hand behalten - und zum Beispiel etwas gegen die oftmals zu große Nähe zwischen Ärzten und Apothekern und Pharmaunternehmen tun.

Auch die Hürden bei der Zulassung neuer Medikamente müssen streng bleiben. Boehringer klagt, man investiere in Deutschland viel in Forschung, habe aber zu geringe Absatzchancen. Die Innovation werde im eigenen Land nicht anerkannt, nicht genutzt. Entscheidend für die Zulassung aber ist nicht der Sitz des Pharmaherstellers, sondern ob ein Medikament den Patienten tatsächlich gesünder macht. Auch die Tiermedizin, auf die sich das Familienunternehmen Boehringer nun stärker einlässt, muss reguliert bleiben. Wenn Tiere zu viel Antibiotika ins Futter bekommen und sich so schneller Resistenzen bilden, stimmt etwas nicht.

Boehringer erlangt mit seinem Tauschgeschäft also nicht nur mehr Anteile an einem Markt, sondern auch mehr Verantwortung. Als von der Börse unabhängiges Unternehmen sollte Boehringer diesen Anspruch einlösen.

© SZ vom 17.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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