Kommentar:Es lebe das Prinzip

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Wenn in der Flüchtlingskrise auf einen Schwung so viele Menschen mit Arbeit versorgt werden müssen, ist ein Mindestlohn klar ein Beschäftigungshindernis.

Von Marc Beise

Das ging schnell. Gerade mal einen Tag war die Idee in der Öffentlichkeit, nun ist sie schon wieder weg. Erst am Sonntag hatte die Kanzlerin-Partei Ausnahmen beim Mindestlohn gefordert, um Flüchtlinge schneller in Arbeit zu bringen. Der Protest der mitregierenden SPD kam postwendend: Keine Änderungen beim Mindestlohn, niemals, legte sich beispielsweise Arbeitsministerin Andrea Nahles fest - und bereits am Montag strich die CDU den eigenen Vorschlag wieder aus ihrem Integrationspapier: Spiel, Satz und Sieg für die SPD.

Wieder einmal, muss man sagen. Denn schon das ganze Mindestlohn-Gesetz war ein einziger großer Sieg für die Sozialdemokraten. Union und Kanzlerin Merkel waren eigentlich dagegen, gönnten jedoch dem kleineren Koalitionspartner in der Anfangsphase der aktuellen Legislaturperiode diese Streicheleinheit.

Ausgerechnet die weltoffene Regierung Merkel verhindert die Integration der Ausländer

In der Sache kann man darüber herrlich streiten. Für die einen ist die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns (nicht zu verwechseln mit freiwilligen Vereinbarungen von Tarifparteien in bestimmten Branchen) ein Programm zur Vernichtung von Arbeitsplätzen, für die anderen ein Stück soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Auch die Wissenschaft ist sich uneinig. In der Theorie ist ein Mindestlohn ein Fehler, weil er in den Markt eingreift. Wenn sich bestimmte Jobs für Arbeitgeber nur bis zu einem bestimmten Stundenlohn rentieren, dann werden die Firmen diese Jobs entweder zu einem niedrigen Preis anbieten - oder es eben lassen. In der Praxis kommt es auf die genauen Umstände an, auf die Gesamtlage der Wirtschaft, die Branche, das möglicherweise nicht-rationale Verhalten der Betriebe, auf die Marktmacht der Unternehmen.

Weil das alles so kompliziert ist, kann man entgegen mancher Behauptung auch ein Jahr nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von zunächst 8,50 Euro nicht sagen, wer anfangs Recht hatte: jene, die einen Aderlass an Jobs vorhersagten oder jene, die den Mindestlohn für unschädlich hielten. Tatsache ist, dass er bisher in der Summe keine Jobs gekostet hat - was sich aber auch mit der derzeit ungewöhnlich guten Lage am Arbeitsmarkt erklärt. Wirklich Bescheid wissen wird man erst nach vielen Jahren und dem nächsten Konjunktureinbruch. So viel ist sicher: Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist ein Experiment mit offenem Ausgang.

Dies wissend, sollte sich selbst für den, der in der Sache anderer Meinung ist, die Forderung nach Wiederabschaffung des Mindestlohns verbieten. Eine Kehrtwende des Gesetzgebers ist weder realistisch noch sinnvoll: Mehr als nach Flexibilität sehnt sich die Wirtschaft nach Verlässlichkeit. Wohl aber sollte an den Details gearbeitet werden dürfen, gerade bei der großen und drängenden Aufgabe der Bewältigung der Flüchtlingskrise.

Wie immer man zur Frage der offenen Grenzen steht, eines ist doch offensichtlich: Deutschland muss schon im eigenen Interesse sehr schnell so viele Flüchtlinge wie nur irgend möglich integrieren. Das heißt vor allem: Sprache lehren und Arbeit besorgen. Ersteres muss zuvorderst der Staat organisieren, übrigens mit sehr viel mehr Geld, als bisher eingeplant worden ist. Arbeit schaffen wiederum geht nicht ohne die Unternehmen, denen der Staat durch Erleichterungen bei der Beschäftigung von Flüchtlingen helfen kann. Wenn auf einen Schwung so viele Menschen mit Arbeit versorgt werden müssen wie derzeit (und viele von ihnen mit einfachen Jobs), ist ein Mindestlohn klar ein Beschäftigungshindernis.

Da aber das Argument der SPD nicht von der Hand zu weisen ist, dass eine generelle Bevorzugung von Flüchtlingen neue Unruhe in eine ohnehin sehr unruhige Bevölkerung bringt, sollte man den Anschein eines Sonderrechts vermeiden. Genau deshalb war der ursprüngliche CDU-Vorschlag so klug, Flüchtlinge den (deutschen) Langzeitarbeitslosen gleichzusetzen, für die aus gutem Grund von Anfang an die Mindestlohnregeln gelockert worden sind - weil selbst die SPD eingesehen hatte, dass man Langzeitarbeitslose um fast jeden Preis in Arbeit bringen muss. Leider wurde diese Ausnahme vom Prinzip auf ein halbes Jahr begrenzt - zu kurz, um wirklich etwas zu bewirken.

Es wäre also ein doppelter Gewinn, Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose auf ein ganzes Jahr vom Mindestlohn auszunehmen. Wäre, hätte, könnte, vorbei . . . Stattdessen triumphieren die Betonköpfe. Ausgerechnet jene Bundesregierung, die unter Angela Merkels Führung so mutig das Land offen hält, ist sträflich zögerlich, die Voraussetzungen zu organisieren, damit "wir" es wirklich "schaffen". Das kann sich bitter rächen.

© SZ vom 16.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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