Kommentar:Endspiel beim Brexit

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Auf die britische Regierungschefin Theresa May kommem sehr harte Monate zu. Denn was bis Jahresende beim Brexit geschieht, wird gravierende Folgen nicht nur für die Zukunft Großbritanniens haben, sondern für ganz Europa.

Von Björn Finke

In London sind die Parlamentarier aus dem Urlaub zurückgekehrt: Hoffentlich gut erholt, denn sie müssen sich harten Prüfungen stellen. Das Königreich steht vor einem Herbst der Entscheidungen. Was bis Jahresende beim Brexit geschieht, wird gravierende Folgen nicht nur für die Zukunft Großbritanniens haben, sondern für ganz Europa.

Premierministerin Theresa May muss zum einen die EU von ihrer Vision für die künftigen Wirtschaftsbeziehungen überzeugen. Den Plan präsentierte die Konservative im Juli auf ihrem Landsitz Chequers. Brexit-Fans wie Außenminister Boris Johnson traten wegen des Papiers zurück. Ihr Vorwurf: May sei Brüssel zu weit entgegengekommen. Doch nicht weit genug für Michel Barnier. Der EU-Chefunterhändler kritisierte die Chequers-Ideen erst am Wochenende als unrealistisch.

Zum anderen muss May jede Einigung mit der EU dem eigenen Parlament verkaufen. Das wird schwierig, denn eingefleischte Europa-Skeptiker in ihrer Fraktion drohen, gegen den verhassten Chequers-Vorschlag oder ähnliche Modelle zu stimmen. Mays Konservative haben zusammen mit der nordirischen Partei DUP nur eine dünne Mehrheit. Rebellieren Dutzende Brexit-Rechtgläubige, würde May die wichtigste Abstimmung ihrer Amtszeit verlieren - und danach wohl ihren Posten. Auf Rettung durch europafreundliche Oppositionsabgeordnete von Labour braucht die Regierungschefin nicht zu hoffen. Die Sozialdemokraten wollen May stürzen sehen, sie setzen auf Neuwahlen. Zudem missfällt die Chequers-Blaupause auch EU-Freunden. Denen ist die Anlehnung an Europa nicht umfassend genug.

May darf sich keinen Fehlschlag erlauben; sie hat keine Zeit für einen zweiten Versuch. Es war vorgesehen, dass ein EU-Gipfel Mitte Oktober die Bedingungen des Brexit und die Grundzüge der künftigen Beziehungen absegnet. Aber weil die Gespräche so zäh verlaufen, ist jetzt von November oder Dezember die Rede.

Danach müssen noch das Europäische und britische Parlament zustimmen, damit das Land Ende März geordnet austreten kann. Scheitern die Verhandlungen, verlässt das Königreich die EU ohne Abkommen. Dann fällt die vereinbarte Übergangsphase weg, in der sich nichts ändern soll. Ende März würden Zölle und Grenzkontrollen eingeführt. Es wäre eine wirtschaftliche und politische Katastrophe.

May hat wertvolle Monate verschwendet. Doch der Zeitdruck könnte auch helfen

May hat es sich selbst zuzuschreiben, dass die Zeit so knapp wird. Sie legte erst zwei Jahre nach dem EU-Referendum eine halbwegs realistische Vision für die Zeit nach dem Austritt vor. Ihr Verhandlungspartner Barnier will diesen Chequers-Plan zwar bisher nicht akzeptieren, doch mit Anpassungen hier und da ist er eine vernünftige Grundlage für Gespräche.

Es wäre bloß schön gewesen, wenn für diese Gespräche mehr Zeit bliebe.

Die Premierministerin hat wertvolle Monate vertändelt, in denen sie rote Linien für die Verhandlungen zog, nur um diese später zu kassieren. Sie fabulierte von maßgeschneiderten Lösungen, dank derer der Brexit viele Vorteile und kaum Nachteile für die Briten haben werde. Brüssel lehnte das erwartungsgemäß als Rosinenpickerei ab. Aber May ging es bei solchen Traumtänzereien um das heimische Publikum: Die Politikerin tat lange so, als müsse das Land keine harten Entscheidungen treffen. Damit zögerte May die unvermeidliche Konfrontation mit den Brexit-Fans in Kabinett und Partei hinaus - bis zum Juli, als im Landsitz von Chequers auf einmal Realismus ausbrach.

Immerhin hat der Zeitdruck einen Vorteil. Landet eine Vereinbarung mit der EU erst im Januar im Parlament, werden sich die Brexit-Enthusiasten sehr genau überlegen, ob sie dagegen stimmen. Sie werden das ausgehandelte Abkommen vermutlich hassen. Doch sie wissen: Verliert May die Abstimmung, herrscht Chaos. Es gibt im Parlament viele Ideen für den Brexit, aber für keine eine Mehrheit. Der Regierung kann also kein klarer, neuer Auftrag erteilt werden. Und es bleiben bloß wenige Wochen bis zum Austritt.

Entweder kracht das Land dann ohne Vertrag aus der EU. Oder London und Brüssel verschieben das Austrittsdatum. May könnte auch zurücktreten, es gäbe Wahlen, vielleicht ein neues EU-Referendum. Viele Brexit-Fanatiker werden diese Komplikationen scheuen. Sie wollen nur raus aus der Union. Diese Angst der Rechtgläubigen könnte der ängstlichen Frau May helfen - und damit ganz Europa.

© SZ vom 06.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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