Kommentar:Ein notwendiger Eingriff

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Der Mindestlohn in Deutschland ist genau ein halbes Jahr alt. Von den vielen Warnungen ist nichts geblieben: Er hat keine Jobs vernichtet. Damit das so bleibt, muss die Politik auch weitere Weichen richtig stellen.

Von Alexander Hagelüken

Wer die Prognosen las, musste das Schlimmste befürchten. Wenn der Mindestlohn kommt, verlieren Friseure, Restaurants und Taxis massenhaft Kunden, warnten Unternehmer - und malten schon viele Firmenpleiten an die Wand. Selbst wer solche Prophezeiungen als interessengesteuert abtat, musste sich sorgen. Denn die unabhängigen großen Forschungsinstitute sagten voraus, es werde bald 100 000 Arbeitslose mehr geben. Genau ein halbes Jahr nach dem Start des Mindestlohns sieht die Welt anders aus: Insgesamt sind keine Jobs verloren gegangen, stellt die Bundesagentur für Arbeit nüchtern fest. Zurzeit suchen so wenige Deutsche eine Beschäftigung wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) hatte völlig recht, ihr Gesetz trotz der negativen Prognosen anzugehen.

Darf also der sozialpolitische Großversuch, vielen schlecht bezahlten Menschen mehr Einkommen zu sichern, als Erfolg ohne Reue gelten? Richtet der Mindestlohn gar keinen Schaden an? Für eine solch sensationelle Botschaft wäre es noch zu früh. Weil der Arbeitsmarkt ein Gewirr von Mini-, Midi- und Sonstwas-Jobs geworden ist, werden die genauen Wirkungen der Lohnuntergrenze erst später klar. Kommt es wirklich auf Dauer so, dass Minijobs in großer Zahl in normale Stellen umgewandelt werden? Man wird sehen. Das zweite Aber betrifft die Konjunktur. Weil die Wirtschaft wächst und Firmen Mitarbeiter suchen, lässt sich die staatlich verordnete Lohnerhöhung auf 8,50 Euro leichter verkraften. Wenn die ökonomische Lage sich verschlechtert, wird das schwieriger.

Trotz dieser Fragezeichen lässt sich jetzt schon sagen, dass das umstrittene Lieblingsprojekt von Sozialdemokraten und Gewerkschaften ein Erfolg ist. Die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt hatten sich seit Anfang der Neunzigerjahre sehr zuungunsten vieler Beschäftigter verändert. Nicht nur der Kostendruck durch die Globalisierung, auch ein ruinöser Wettbewerb bei manchen Dienstleistungen und die Chancen auf höhere Gewinne bewogen Unternehmer, Löhne von ein paar Euro zu zahlen. Wo Gewerkschaften wegen der Tarifflucht nichts mehr ausrichten können, wird es zur Aufgabe der Politik, ihren Bürgern eine Bezahlung zu sichern, die halbwegs zum Leben reicht. Die deutsche Politik ist sehr lange vor so einem Schritt zurückgeschreckt. Dass der Mindestlohn keine ideologische Waffe radikaler Linker ist, zeigt sich aber schon daran, dass es ihn seit Längerem auch in eher wirtschaftsliberalen Ländern wie Großbritannien und den USA gibt.

Die Koalition muss offen sein für Korrekturen, die der Wandel auf dem Arbeitsmarkt erfordert

Wenn der Mindestlohn ein Erfolg bleiben soll, darf sich die Arbeitsministerin nun nicht auf ihrer Leistung ausruhen. Sie muss offen für Korrekturen sein, die der stete Wandel auf einem Arbeitsmarkt mit Millionen Beschäftigten erfordert. Auf den Druck der Union gibt Nahles dafür gerade ein Beispiel, in dem sie die Pflicht der Unternehmen lockert, die Arbeitszeit bestimmter Beschäftigter zu dokumentieren. Wer alle Kontrollmechanismen als Bürokratie verdammt, sabotiert allerdings die Wirksamkeit des Mindestlohns. Es ist leider so, dass manche Arbeitgeber ihre Kreativität in den Versuch fehlleiten, das Gesetz zu umgehen. In Restaurants und Hotels, am Bau und in manch anderer Branche muss die Lohnuntergrenze überwacht werden.

Es werden Zeiten kommen, in denen eine staatliche Lohngrenze schlechter zur wirtschaftlichen Entwicklung passt, in denen sie mehr gering Qualifizierte die Arbeit kosten könnte als heute. Deshalb wird es für den Erfolg des Mindestlohns auch zentral sein, wie hoch er ist und wie schnell er erhöht wird. Es ist vernünftig, dass die Bundesregierung versucht, diese Festlegung parteipolitischer Profilierung zu entziehen. Nun muss sich erweisen, ob die unabhängige Mindestlohnkommission so sachkundig agiert, wie es ihrem britischen Vorbild gelingt. Die Bundesregierung sollte am Mindestlohn festhalten, auch wenn die Kritik daran nach dem nächsten Boom schärfer wird. Sie greift nach starkem Drängen der SPD zu Recht in den Markt ein und hilft Arbeitnehmern, die vorher alleingelassen waren.

Was die Politik dagegen überprüfen sollte, ist die Rente mit 63, die es jetzt ein Jahr gibt. So sehr es jedem zu gönnen ist, nach einem langen Arbeitsleben mit voller Rente frühzeitig in Ruhestand zu gehen, so fragwürdig ist das Ganze verteilungspolitisch - künftige Generationen werden länger arbeiten und müssen mit einer niedrigeren Rente rechnen. Dazu kommt, dass das Instrument dem Arbeitsmarkt ältere Arbeitnehmer entzieht, die man doch zuletzt gerade zu integrieren versuchte. So ist die Frührente eine Maßnahme mit gleich zwei Problemen.

© SZ vom 02.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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