Kommentar:Die Zukunft muss warten

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Papier ist geduldig, Koalitionsverträge sind es auch. Erst recht gilt das für die 179 Seiten, auf die sich CDU, CSU und SPD in dieser Woche verständigt haben.

Von Marc Beise

Papier ist geduldig, Koalitionsverträge sind es auch. Erst recht gilt das für die 179 Seiten, auf die sich CDU, CSU und SPD in dieser Woche verständigt haben. Wer sich berufsmäßig mit der Politik beschäftigt, sollte das Papier gelesen haben, der Bürger muss es nicht, und es bringt ihm auch nicht viel. An etlichen Stellen ist bewusst vage formuliert (Europa), an anderen verdächtig detailliert (Digitalisierung), beides macht es schwer, einen roten Faden, eine Überschrift zu finden. Jene, die gewählt wurde (Aufbruch für Europa, Dynamik für Deutschland, Zusammenhalt fürs Land), wird konkret kaum eingelöst.

Aber eigentlich ist das auch gar nicht so schlimm, denn letztlich ist der Vertrag zunächst eine Arbeitsanweisung an den politischen Betrieb, welche Themen jetzt angegangen werden müssen. Und er ist eine Rückversicherung der drei Parteien, auf die sie sich gegebenenfalls beim einen oder anderen Streit berufen können. Diese zweite Funktion ist ohnehin von begrenztem Wert. Sie hilft nur, wenn die Partner sich grundsätzlich wohlgesonnen und ihrer eigenen Rolle gewiss sind; aktuell ist das sicher nicht der Fall.

Wichtiger als Verträge ist die Fähigkeit, auf Krisen zu reagieren

Viel wichtiger als Formelkompromisse wäre der politische Wille der Parteien, die Zukunft bei Bedarf nicht gemeinsam zu verwalten, sondern zu gestalten. Dafür zählt nicht das Ergebnis nächtlicher Verhandlungen, sondern der politische Alltag. Was, wenn sich die derzeit so angenehmen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern? Ein Börsencrash, eine neue Finanzkrise, weltweiter Protektionismus, das enorme Tempo der Digitalisierung - all das kann politisches Handeln erfordern.

Vor diesem Hintergrund sticht in der blumigen Präambel des Koalitionsvertrages eine Passage gleich auf der ersten Seite heraus: "Unsere Ausgangslage ist gut", heißt es da. "Die Wirtschaft boomt, noch nie waren so viele Menschen in Arbeit und Beschäftigung. Das ist auch Ergebnis der Regierungszusammenarbeit von CDU, CSU und SPD." Das zeigt, auf welcher Basis die drei Parteien zusammenarbeiten wollen. Der zweite Teil der Aussage stimmt gar nicht erst. Denn Deutschland geht es nicht wegen, sondern trotz der großen Koalition gut. Das Land profitiert von der Weltlage, den Problemen anderer Staaten und der Eigendynamik der deutschen Wirtschaft. Politisch profitiert Deutschland vor allem und immer noch von den Strukturreformen der Agenda 2010, die zweifelsfrei wirtschaftliche Dynamik freigesetzt haben.

Diese Reformen am Arbeitsmarkt und im Sozialrecht waren im Koalitionsvertrag des zweiten Kabinetts Gerhard Schröder/Joschka Fischer nicht angekündigt. Vielmehr begann die rot-grüne Koalition 2002 in ähnlich schlechter Verfassung wie heute die große Koalition. Im Folgejahr war Schröders Agenda 2010 eine quasi handstreichartige Reaktion auf eine beängstigend schlechte Wirtschaftslage. Die meisten Fachleute sind sich einig, dass sie bis heute positiv nachwirkt.

Dem abgewirtschafteten Personal der heutigen, an sich selbst zweifelnden Koalition traut man einen solchen politischen Gestaltungswillen schlichtweg nicht mehr zu. Die neue Generation von modernen, zukunftsgewandten Politikern aber, die sich bei Grünen und FDP bereits nach vorne schiebt, wird bei den beiden traditionellen Volksparteien kleingehalten, viele profilierte Köpfe sind es ohnehin nicht.

Am Ende ist das Ganze ein Wettlauf mit der Zeit. Treten die erschöpften Langzeitfunktionäre schnell genug ab, damit der schleichende Niedergang Deutschlands aufgehalten werden kann, oder wird er bereits gefährlich weit fortgeschritten sein, ehe der Generationswechsel kommt? Der Marsch durch die Parteigremien muss dringend beginnen.

© SZ vom 10.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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