Kommentar:Die Lehren aus der Boeing-Krise

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Nach zwei Abstürzen von Maschinen des Typs 737 Max haben Konzern und Aufsichtsbehörde richtige Schlüsse gezogen.

Von Jens Flottau

Auf den ersten Blick erscheint der Vorgang absurd. Seit fast zehn Monaten gilt, nach zwei Abstürzen, ein weltweites Flugverbot für die Boeing 737 Max. Seither baut der Konzern jeden Monat 42 der Maschinen und parkt sie auf etlichen US-Flughäfen - die Positionierungsflüge sind erlaubt. Gleichzeitig ist nun allmählich absehbar, dass nach knapp einem Jahr das Flugverbot aufgehoben wird. Und doch beschließt das Unternehmen in just diesem Moment, die Produktion der 73 7-Serie auszusetzen.

Noch nie zuvor galt für ein modernes Passagierflugzeug ein so langes Flugverbot, und noch nie hat ein Unternehmen die Produktion über Monate hinweg gestoppt, so wie das nun wohl kommen wird. Die Entscheidung ist dadurch zu erklären, dass bislang schon alles viel länger dauerte, als Boeing geglaubt hatte. Und dass das Unternehmen fürchten muss, dass sich auch das weitere Verfahren in die Länge zieht. Warum? Weil alle Beteiligten, vor allem die viel kritisierten Aufsichtsbehörden, genau darauf achten, bloß nicht noch einen Fehler zu machen.

Die Max-Krise hat ein mehrfaches Systemversagen in der Flugsicherheit offenbart. Boeing-Ingenieure haben natürlich nicht absichtlich 346 Menschen in den Tod fliegen lassen. Aber sie haben eine mangelhafte Flugsteuerungssoftware, das berüchtigte Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS), konstruiert und dabei falsche Annahmen getroffen. Das zentrale Problem war, zu glauben, dass die allermeisten Piloten einen MCAS-Fehler schnell erkennen und korrigieren würden. Im Verlauf der Entwicklungsarbeiten hatte Boeing die Funktionsweise des Systems sogar noch verschärft.

Auch die europäische Flugsicherheitsagentur hat angekündigt, sich mehr einmischen zu wollen - ein überfälliger Schritt

Boeing und die amerikanische Aufsichtsbehörde FAA streiten sich darüber, wer wann was gewusst und wie kommuniziert hat. Die FAA selbst aber ging bei ihrer Genehmigung offenbar davon aus, dass 99 Prozent aller Piloten innerhalb von zehn Sekunden einen MCAS-Fehler identifizieren und dann richtig reagieren würden. Wie man heute weiß, war auch diese Annahme falsch.

Der Zeitdruck, ausgelöst durch den Erfolg des Konkurrenten Airbus, mag bei diesen und anderen fragwürdigen Entscheidungen eine Rolle gespielt haben, auch wenn ein direkter Zusammenhang nie nachzuweisen sein wird. Die Max sollte unbedingt auf den Markt, und zwar möglichst schnell.

Gut zehn Monate nach dem zweiten Absturz hat Boeing wohl einiges korrigiert. MCAS wurde grundlegend überarbeitet. Nach allem, was öffentlich bekannt wurde, ist die neue Version nun besser durchdacht und sicher. Auch organisatorisch hat sich etwas verändert: Die Ingenieure, die für die Sicherheit verantwortlich sind, waren nicht unabhängig genug, nun werden alle wieder dem Chef-Ingenieur, einem Techniker, unterstellt.

Auch die FAA pocht unter ihrem neuen Chef Steve Dickson auf mehr Unabhängigkeit und zieht die Max-Zulassung jetzt auch in diesem Sinne durch. Das System des Delegierens, bei dem Behörden Aufgaben an die Industrie übertragen, wird bei künftigen Projekten erhalten bleiben, aber es geht darum, bessere Kontrollen zu etablieren. Auch die europäische Flugsicherheitsagentur EASA hat angekündigt, sich mehr einmischen zu wollen - ein überfälliger Schritt. Die veränderte Haltung der Behörden macht sich schon bemerkbar, sie prüfen bei der neuen MCAS-Version alles genau. Und wenn es lange dauert, dauert es eben lange. Und wenn die Kosten hoch sind, dann eben auch das.

Was die Lehren aus den Abstürzen von Lion Air und Ethiopian angeht, wird es wichtig sein, die Grenzen nicht zu eng zu ziehen. Denn sie betreffen die Luftfahrtindustrie insgesamt. Egal ob Boeing, Airbus, Embraer oder Dassault Business Jets - die Hersteller bauen komplexe technische Maschinen. Das enorme Wachstum der vergangenen Jahre führt dazu, dass immer mehr gut ausgebildete Piloten benötigt werden, die die Technik auch beherrschen. Allein die indische Billigfluggesellschaft Indigo bestellte über 600 Airbus-Jets. Lion Air aus Indonesien orderte je knapp 250 Maschinen bei beiden großen Herstellern. Wo sollen so schnell all die Piloten herkommen? Die Flugzeugbauer müssen künftig schon bei der Entwicklung noch mehr darauf achten, dass möglichst viele Piloten mit den Systemen im Cockpit klarkommen - auch wenn sie nicht zu den Besten ihres Faches gehören.

© SZ vom 19.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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