Kommentar:Die Angst vor der Wahrheit

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Die Koalition beteuert, die deutschen Bürger könnten sich in Zukunft wieder auf die Alterssicherung verlassen. Das ist aber unrealistisch.

Von Marc Beise

Die große Koalition ist nicht zu beneiden, und das ist weder spöttisch noch zynisch gemeint. Ihr Image ist so katastrophal ruiniert, dass sie selbst mit einem Füllhorn an Wohltaten die Bürger nicht mehr freundlich, sondern allenfalls misstrauisch stimmen würde. Erst recht kann sie es sich nicht mehr leisten, den Bürgern die Wahrheit zu sagen - jedenfalls dann nicht, wenn diese Wahrheit unbequem ist.

Also musste der arme SPD-Sozialminister Hubertus Heil im Deutschen Bundestag beteuern, dass die Menschen sich dank des neuen Rentenpakets der großen Koalition wieder auf eine auskömmliche Alterssicherung verlassen könnten. Schon das "wieder" war eine Anmaßung, vom "verlassen" ganz zu schweigen. Denn die Beschlüsse vom Donnerstag werden das nächste Jahrzehnt nicht überdauern. Was übrigens die CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die ihre Akten gelesen hat, natürlich genau weiß - wozu sie aber schweigt, wie so oft bei Projekten, die der SPD wichtig sind und ihr deshalb um des Koalitionsfriedens gleichgültig. Das ist der Alltag in der großen Koalition.

In Wahrheit war Verlässlichkeit eher bisher gegeben mit einem Rentensystem, das sich an den realen Rahmenbedingungen orientiert und das aus purer Notwendigkeit das offizielle Renteneintrittsalter sehr allmählich von früher 65 auf bald 67 Jahre nach oben schiebt. Vor allem Heils damaligem Amtsvorgänger Franz Müntefering, ebenfalls SPD, bleibt dafür ewiger Dank der Rentenexperten sicher.

Denn diese Experten wissen, dass das bestehende umlagefinanzierte System, in dem die Aktiven monatlich von ihrem Arbeitslohn in die Kasse einzahlen, aus der die Rentner ebenfalls monatlich ihr Auskommen erhalten, dass dieses Umlagesystem Luft zum Atmen braucht, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Und sie ändern sich derzeit, unweigerlich und immer schneller. Die Zahl der Rentner steigt, sie leben im Schnitt länger, und zugleich kommen weniger junge Menschen nach.

Allein in der aktuellen vierjährigen Legislaturperiode wird es wieder pro Beitragszahler zehn Prozent mehr Rentenbezieher geben, die jeweils ein Jahr länger leben werden. Mit der Verrentung der geburtenreichen Jahrgänge wird diese Veränderung jetzt rasant an Tempo zunehmen.

Die Rentenpolitik der großen Koalition ist weder verlässlich noch realistisch

Immer weniger Aktive müssen immer mehr Rentner finanzieren, das ist offensichtlich, das kann man nicht aussitzen. Es ist ein Drama der heutigen Politik, dass sich die große Koalition in eine Lage manövriert hat, in der sie die Konsequenzen dieser Entwicklung um keinen Preis benennen darf, wenn sie irgendwie bis zu den nächsten Wahlen über die Runden kommen will. Als wäre das nicht schon schlimm genug, beschließt sie neue soziale Maßnahmen (die ihr, siehe oben, nicht mal zugute geschrieben werden): Verbesserungen bei der Mütterrente, bei der Erwerbsminderungsrente, bei Niedrigverdienern. Alles ehrenwert, aber in der Summe packt die große Koalition in ein ohnehin wankendes System noch mal Gewaltiges hinein - und damit das auch garantiert nicht funktionieren kann, zieht sie mit ihren sogenannten Haltelinien die Fesseln noch enger: Das Rentenniveau soll nicht unter 48 Prozent sinken, der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen. Diese doppelte Haltelinie wird nicht halten, weil sie auf unrealistischen Annahmen beruht. Und das nennt man dann Verlässlichkeit?

Am Ende wird das System Jahr für Jahr neue Steuermilliarden benötigen. Geld, das künftige Generationen erarbeiten und an den Staat abgeben müssen. Deshalb haben all jene recht, die die aktuellen Rentenbeschlüsse im Generationenvergleich krachend ungerecht nennen. Gerecht wäre es, wenn eine älter werdende und länger gesund lebende Generation auch länger arbeitet, also später erst aus dem Lager der Zahler in das der Empfänger wechselt. Bisher gilt das als Tabu, aber dabei wird es nicht bleiben können, ganz sicher nicht.

Am Ende wird wohl, irgendwann im kommenden Jahrzehnt, die Politik beschließen, an allen Stellschrauben ein wenig zu drehen: das Rentenniveau senken, die Beitragssätze erhöhen, das Renteneintrittsalter verschieben, die Steuerzuschüsse erhöhen. Das wäre dann endlich eine verantwortliche Politik, die den Ausgleich zwischen den Generationen sucht. Es wäre das Gegenteil der "Nach uns die Sintflut"-Politik der großen Koalition.

© SZ vom 09.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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