Kolumne: Silicon Beach:Im Erlebniszentrum

Lesezeit: 3 min

Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Lange Zeit war das Einkaufszentrum so etwas wie eine amerikanische Institution, dann galt es wegen der Digitalisierung als vom Aussterben bedroht. Jetzt erlebt es auf einmal eine Renaissance - weil es sich anpasst.

Von Jürgen Schmieder

Natürlich erlebt jeder Mensch irgendwann diesen Moment, in dem er bemerkt, dass er vom Aussterben bedroht ist - wenn einem der 15 Jahre alte Neffe zum Beispiel mitteilt, dass er keine Ahnung habe, wer oder was Guns N' Roses seien. Es ist kein schöner Moment, und er steigert sich zu einem grotesken, weil einen dieser 15 Jahre alte Neffe gleich danach bittet, ihn in ein Einkaufszentrum zu fahren - also in eines dieser riesigen Gebilde, von denen es seit ein paar Jahren heißt, dass sie wegen der Digitalisierung vom Aussterben bedroht seien.

Die sogenannte Mall ist eine amerikanische Institution, seit den Fünfzigerjahren das Symbol für Suburbia. In die Vororte zogen damals all jene, die in der Großstadt so viel Geld verdienten, dass sie sich da draußen ein Häuschen leisten konnten und ein Auto, in dem sie dann zu diesen monströsen Gebäuden mit den vielen Geschäften fuhren. Sie kauften ein, vor allem Klamotten, Bücher und Schmuck, sie aßen Schnellfutter - ein Restaurant würde sie zu lange vom Shopping abhalten, deshalb gab es fast ausschließlich Fast-Food-Filialen - und trafen Freunde. Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass sich in US-Teenie-Filmen fast alle Verliebten irgendwann mal im Einkaufszentrum begegnen?

Die Digitalisierung und damit die Möglichkeit, nicht nur Klamotten, Bücher und Schmuck auf Online-Portalen zu bestellen, sondern alles andere auch, ließ den stationären Einzelhandel erst in die Krise und dann auf die Liste der bedrohten Arten rutschen. Ende 2018 gab es in US-Malls so viel freie Fläche wie seit der Finanzkrise im Jahr 2009 nicht mehr. Einer Prognose von Credit Suisse zufolge sollen in den kommenden fünf Jahren 20 bis 25 Prozent aller Einkaufszentren in den USA schließen. Warum also in aller Welt will dieser Teenager, der keine Ahnung von Guns N' Roses hat, unbedingt dorthin?

"Kleine Fitness-Boutiquen gehören zum Lebensgefühl der Millennials."

Nun, es könnte daran liegen, dass diese vom Aussterben bedrohten Orte eine darwinistische Evolution erleben, sie entwickeln sich von Einkaufszentren zu Erlebniszentren. Der junge Mann will nämlich keine Klamotten, Bücher oder Schmuck kaufen, er möchte das Virtual-Reality-Spiel "Terminator Salvation: Fight for the Future" ausprobieren, das es nun dort gibt, wo früher eine Filiale einer Fast-Food-Kette gewesen ist. Statt des Bekleidungsgeschäfts: ein Fitnessstudio. Statt des Juweliers: ein Laden, in dem man sich in Kühlkammern das Fett wegfrieren lassen oder intravenös den Kater bekämpfen kann.

Die Renaissance der Mall lässt sich mit drei Trends erklären, die, miteinander kombiniert, diese Chance zum Überleben bieten. Erstens: Leute zwischen 14 und 35 Jahren, gemeinhin mit den Begriffen "Millennials" und "Generation Z" umschrieben, legen weniger Wert auf Besitz denn auf Erlebnisse. Yoga-Kurs, Kältetherapie oder Floating Tanks kann man dann doch nicht bei Amazon bestellen. Der Umsatz des stationären Einzelhandels für Bekleidung hat in den vergangenen zehn Jahren in den USA stagniert, der mit Fitness- und Gesundheitsprodukten ist gleichzeitig um 34 Prozent gestiegen.

"Experience Economy" nennen die Amerikaner das alles, B. Joseph Pine II and James H. Gilmore prognostizierten in einem Artikel in der Harvard Business Review vor mehr als 20 Jahren, dass die Erlebnisindustrie eine dominierende Rolle spielen werde. Erlebnisse lassen sich nur schwer zu Hause nachbilden, auch wenn es im Fitnessbereich etwa die Unternehmen Peloton oder Mirror gibt. Stationäres Fahrrad oder Fitness-Spiegel - beide kosten einen vierstelligen Betrag plus eine monatliche Abogebühr - schränkt einen schon wieder ein.

"Kleine Fitness-Boutiquen gehören zum Lebensgefühl der Millennials", sagt John Klein, der für die Fitnesskette Equinox nach möglichen Gebäuden sucht und Berater der Nur-für-Frauen-Lifestyle-Marke The Wing ist: "Die Leute wollen Abwechslung, sie wollen aber womöglich auch jemanden treffen, mit dem sie danach einen Smoothie trinken und sich unterhalten können." Der Anteil der Ladenfläche in US-Einkaufszentren, der von Fitnessstudios belegt wird, ist in den vergangenen sechs Jahren um 70 Prozent gestiegen.

Zweitens: Der Drang zur Selbstoptimierung führt dazu, dass die Besucher in diesen Gebäuden erst ins Fitnessstudio gehen, danach in die Sauna, ins Solarium oder zur Massage, dazwischen vielleicht einen Bio-Smoothie und danach ein Ausflug ins vegane Restaurant. "Große Läden, Kino oder Bowlingbahn sind nicht mehr die Herzstücke eines Einkaufszentrums", sagt Drew Myers von der Immobilienanalysefirma CoStar: "Die Leute wollen gesund und bewusst leben, das führt zu einer Veränderung der Struktur, kreiert aber Fußverkehr für andere Läden."

Das führt zum dritten Trend: Die Pop-up-Economy sorgt dafür, dass ein Geschäft nicht mehr unbedingt das ganze Jahr über geöffnet haben muss. Es gibt nun also in den Malls sogenannte Pop-up-Stores: Die Leute sollen von Januar bis Juli ihre Neujahrsvorsätze im Crossfit-Studio umsetzen, länger halten die meisten ohnehin nicht durch. Danach wird daraus ein Halloween-Kostümladen, schließlich ein Spielzeuggeschäft für die Weihnachtszeit.

"Adapt or Die" heißt es an der US-Westküste - frei übersetzt: Wer sich nicht anpasst, der möge bitte schön aussterben. Die Verantwortlichen der Einkaufszentren haben das vorerst geschafft, indem sie ihre Gebäude zu Erlebniszentren umgebaut haben. Das verführt einen, dem eigenen Aussterben vorzubeugen und den 15 Jahre alten Neffen in die Mall zu begleiten und ein paar der Fitnessangebote auszuprobieren. Nur: Im Auto läuft dann nicht "Bad Guy" von Billie Eilish, sondern "Patience" von Guns N' Roses.

© SZ vom 11.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: