Kolumne: Pipers Welt:Spätkapitalismus

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An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Jeder redet davon, aber keiner weiß, was er bedeutet: Anmerkungen zur Kulturgeschichte eines modischen, aber heutzutage inhaltsleeren Kampfbegriffs.

Von Nikolaus Piper

Künstler haben zu Wirtschaftsdingen einen anderen Zugang als Ökonomen. Das ist auch gut so, denn anderenfalls wäre das Leben langweilig. Trotzdem muss man gelegentlich schlucken, wenn sich der Kunstbetrieb ökonomischen Themen annimmt. Zum Beispiel dieser Tage im Museum Brandhorst. Das Museum mit seiner charakteristischen Fassade aus bunten Keramikstäben liegt in der Münchner Theresienstraße und verfügt über eine der wichtigsten Sammlungen zeitgenössischer Kunst in Deutschland. Voriges Jahr wurde das Museum zehn Jahre alt, und aus diesem Anlass zeigen die Museumsmacher eine Ausstellung unter dem hoffnungsfrohen Titel "Forever Young".

Thema ist, so erläutert eine Broschüre, die Frage: "Welche Form von Subjektivität bringt der Spätkapitalismus hervor? Und wieso ist sie so prekär?" Alles sei heute Teil des "Systems", auch die Kunst. Allerdings könne sie "einen eigenen Blick auf die Funktionsweisen und Folgen dieses Produktionsverhältnisses werfen". Eines der wichtigsten Ausstellungsstücke ist ein überdimensioniertes Spiegelregal des britischen Künstlers Damien Hirst von 2002. In ihm liegen, wohlgeordnet, 27 639 Pillen. Es soll "einen nüchternen Blick auf den Zustand und die Pathologien unserer spätkapitalistischen Gesellschaft" eröffnen.

Interessant dabei ist weniger die konsequent antikapitalistische Deutung der Kunst als vielmehr das Präfix "Spät" vor "Kapitalismus". Normalerweise erwartet man, wenn etwas "Spät" heißt, dass es bald von irgendetwas anderem abgelöst wird. Nach dem Spätsommer kommt der Herbst, nach dem Spätmittelalter die Renaissance. Aber was kommt nach dem Spätkapitalismus? Bis zum 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel, konnte man sich noch einreden, dass danach der Sozialismus kommt, vorausgesetzt man war realitätsblind.

Aber heute?

Zeit jedenfalls für eine kleine Kulturgeschichte des Begriffes "Spätkapitalismus". Erfunden hat ihn vermutlich der konservative deutsche Ökonom Werner Sombart (1863-1941). Im dritten Band seines monumentalen Hauptwerkes "Der moderne Kapitalismus", 1927 erschienen, beschreibt er den Spätkapitalismus als eine Zeit, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, in der der Staat den Wettbewerb einschränkt, in der die Produktivität und die Wirtschaft insgesamt nicht mehr so schnell wächst . Der Spätkapitalismus wäre demnach über hundert Jahre alt, fast älter als der eigentliche Industriekapitalismus (Sombart nannte ihn "Hochkapitalismus"). Sombart erwartete auch, dass der Kapitalismus irgendwann vom Sozialismus abgelöst werden würde, wobei dessen Staatssozialismus den Leuten im Museum Brandhorst vermutlich nicht gefallen hätte.

Nach der Befreiung vom Spätsozialismus redete niemand mehr vom Spätkapitalismus

Richtig populär wurde der Begriff aber erst bei der Neuen Linken in den 1960er Jahren und danach. Wer von der Gesellschaft der Bundesrepublik als "Spätkapitalismus" sprach, und nicht von der "modernen Industriegesellschaft", der zeigte, dass er progressiv war. Soziologen wie Theodor Adorno und Jürgen Habermas machten den Begriff in einem breiten akademischen Publikum populär. Die Jungsozialisten in der SPD beschlossen 1970, sie wollten die "Opfer des spätkapitalistischen Systems mobilisieren", was ihnen allerdings, wie man heute weiß, nur sehr begrenzt gelang. Unter anderem, weil nur sehr wenige Bundesbürger überhaupt wussten, dass sie Opfer des Systems waren. Eine Fraktion der Jusos verdammte den Spätkapitalismus auch noch als "Staatsmonopolistischen Kapitalismus" (Stamokap).

Der damals unter linken Studenten einflussreiche Marxist Ernest Mandel (1923-1995) befasste sich nicht nur mit dem Spätkapitalismus selbst, sondern auch mit dem Danach. Es war, nach einer Übergangsfrist, der Sozialismus und schließlich dessen "Endphase". Dann werde die "Gewöhnung an einen Überfluss von Gütern und Dienstleistungen das gesellschaftliche Bewusstsein der Menschen völlig geändert" haben, so dass sie zwischen ausgedehnter Mußezeit auch "abwechselnd die leitenden Funktionen in der sozialistischen Wirtschaft ausüben können. Das war das "Reich der Freiheit", von dem Karl Marx einst geschrieben hatte.

Das alles wirkte ziemlich bizarr, nachdem sich die Menschen in der DDR und in Mittel- und Osteuropa vom Spätsozialismus befreit hatten und damit begannen, aus dessen Ruinen einen funktionierenden Kapitalismus aufzubauen. Entsprechend verschwand der "Spätkapitalismus" aus dem Sprachgebrauch.

Doch die Zeiten sind vorbei. Heute ist die Gesellschaft im Krisenmodus und jetzt spricht Attac von Spätkapitalismus, ebenso wie die Linke oder die zwischen rechts- und linksaußen irrlichternde Internetseite KenFM des Berliner Journalisten Ken Jebsen. An den Universitäten sind, was das Thema betrifft, die 1960er und 1970er Jahre zurückgekehrt. Es gibt Buchtitel wie "Weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus" oder "Schlaflos im Spätkapitalismus". Und dann eben Ausstellungen wie die im Museum Brandhorst. Was die neue Welle der Klage über den Spätkapitalismus von früheren unterscheidet, ist, dass die Frage, was denn nach dem "Spät" kommt, völlig ausgeblendet wird. Ökonomische Erklärungen spielen keine Rolle. Der Begriff dient nur zur Untermalung einer düsteren Weltsicht. "Unser Leben ist durchdrungen von Wertschöpfungsprozessen", heißt es in München in einem der Ausstellungstexte.

Die Hoffnung wäre, dass irgendein Künstler einmal erkennt, dass "Spätkapitalismus" heute ein Kampfbegriff ohne Inhalt ist, jedenfalls solange niemand weiß, was nach dem Kapitalismus kommt.

Die Ausstellung "Forever Young" im Museum Brandhorst ist noch bis 19. Juli 2020 zu sehen.

© SZ vom 06.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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