Kapitalismus in der Krise:Das Ende der Wall Street

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Banken am Abgrund: Die Finanzindustrie hat sich immer mehr von der realen Wirtschaft entfernt - auf Dauer konnte das nicht gutgehen.

Martin Hesse

Als im März 2008 die amerikanische Investmentbank Bear Stearns zusammenbrach, verglich der Economist die Finanzwirtschaft mit Wile E. Coyote. Dabei handelt es sich um eine Zeichentrickfigur, die der Amerikaner Chuck Jones in den 1940er Jahren kreierte. Ein nicht besonders schlauer (englisch: wily) Kojote jagt in Jones' Filmen einen flugunfähigen Vogel, den Road Runner. Wile E. Coyote rennt und rennt auch dann noch, als er schon längst über dem Abgrund schwebt, bis er schließlich nach unten schaut und abstürzt.

Wann hat die weltweite Finanzwirtschaft den Boden unter den Füßen verloren? Auch die Händler an der Wall Street wissen es nicht. (Foto: Foto: AP)

Der Moment, in dem die globale Finanzwirtschaft den Boden unter den Füßen verlor, ist nicht präzise zu bestimmen. Jahrelang waren die Banken dem Abgrund entgegengelaufen. Doch es ging ihnen wie dem Kojoten. Noch kurz bevor die Krise im Sommer 2007 ausbrach, sagte Charles Prince, der damalige Chef der Citigroup, seine Bank "tanze noch immer". Die Banken stürzten erst, als immer mehr ihrer Protagonisten nach unten sahen und bemerkten, dass da nur noch Luft war, dass sie den Bezug zur realen Wirtschaft, in der Waren und Dienstleistungen produziert werden, weitgehend verloren hatten. 18 Monate später ist die Bankenwelt nicht mehr die, die das vergangene Jahrzehnt geprägt hatte.

Nichts symbolisiert den dramatischen Wandel der Bankenwelt so gut, wie die Auflösung der einst fünf großen reinen New Yorker Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers, Merrill Lynch, Morgan Stanley und Goldman Sachs. Man kann sich diese fünf als das Herz der modernen Kapitalmärkte vorstellen.

Als Bear Stearns im März fiel und in letzter Minute von J.P. Morgan aufgefangen wurde, flatterte das Herz. Als am 15. September Lehman Brothers zusammenbrach, stand es still. Merrill Lynch flüchtete sich unter das Dach der Bank of America, Goldman Sachs und Morgan Stanley gaben ihren Status als Investmentbank auf und wandelten sich der Form nach zu normalen Geschäftsbanken. Dies war das äußere Zeichen für das Ende jener Ära, in der Finanzalchemisten die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft zu setzen schienen.

Politik des billigen Geldes

Drei Entwicklungen hatten seit den neunziger Jahren dazu geführt, dass die Finanzbranche abhob. Erstens erlebten die Banken selbst eine Art industrielle Revolution, die eine Flut von Finanzinnovationen hervorbrachte. Zweitens globalisierten sich die Kapitalmärkte schneller als alle anderen Märkte. Drittens begünstigte die amerikanische Notenbank mit einer Politik des billigen Geldes das rapide Wachstum der Bankbranche.

Viele Jahre ist die Menge an Geld und Krediten schneller gewachsen als die Realwirtschaft. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) schätzt, dass 2006 die Geldmenge 122 Prozent des Weltsozialproduktes ausmachte. Zusätzlich zirkulierte aber mehr als das Zehnfache in Form von verbrieften, also als Wertpapiere verpackten Krediten sowie Derivaten. Der Investor Warren Buffett bezeichnete diese Finanzprodukte, deren Wert sich von anderen Vermögenswerten ableitet (lateinisch: derivare), Anfang des Jahrtausends sehr treffend als Massenvernichtungswaffen.

Der Vergleich ist etwas zynisch, aber im günstigsten Fall können Derivate wie die atomare Abschreckung mehr Sicherheit schaffen, weil Investoren sich damit gegen Risiken absichern können. Doch sie haben auch enormes Zerstörungspotenzial, wenn man sie nutzt, um mit geringem Einsatz hohe Wetten auf Aktienkurse, Zinsen oder Immobilienpreise abzuschließen. Derivate trieben die Verschuldung der Wirtschaft in schwindelerregende Höhen. Sie füllten den Ballon, der die Geldwirtschaft in den Himmel hob. Und sie beschleunigen ihren Niedergang, seit sich ihre zerstörerische Kraft gegen das Finanzsystem selbst richtet.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Derivate ihren beispiellosen Siegeszug zelebrierten.

Es ist nicht so, als habe niemand frühzeitig die Gefahr erkannt, die von Derivaten ausgeht. "Zwei Arten von Sorgen stechen hervor: die Komplexität der Produkte und das Funktionieren dieser Märkte in Stresssituationen", schrieb die BIZ im Frühjahr 2005 in ihrem Jahresbericht. Schließlich gebe es noch keine Erfahrungen damit, wie der Derivatemarkt reagiere, wenn die Zinsen steigen oder es vermehrt zu Kreditausfällen kommt. Doch trotz solcher Warnungen rannte die Finanzwirtschaft wie der dumme Kojote weiter.

Ihren beispiellosen Siegeszug hatten Derivate Ende der 80er Jahre angetreten. Damals begannen Investmentbanker, in ihren Labors immer ausgefeiltere Finanzprodukte zu basteln. Sie trennten Risiken von Krediten und machten sie handelbar, ordneten Darlehen nach Risikoklassen und schnürten sie zu Paketen zusammen, die sie als Collateralized Debt Obligations (CDOs) bezeichneten. Doch erst zehn Jahre später nahm das Geschäft richtig Fahrt auf. Die Investmentbanker Bill Demchak und Blythe Masters begannen bei J.P. Morgan, riesige Pakete von Kreditversicherungen zu schnüren und als Spekulationsobjekt an Investoren zu vertreiben. Bei dem Wertpapierhaus Prudential Securities drehte Christopher Ricciardi ein großes Rad, er sah sich als Großvater der CDOs. 2004 führte er Merrill Lynch an die Spitze der CDO-Architekten, in einem Jahr setzte die Bank damit 16,5 Milliarden Dollar um.

Begrenzte Möglichkeiten

Bill Gross, der Chef des weltweit größten Anleihenmanagers Pimco, bezeichnete das, was Ricciardi und andere aufgebaut hatten, als Schattenbanksystem. Was meinte er damit? Große Teile des Kredit- und Derivatehandels spielten sich außerhalb des offiziellen Bankensystems ab. Dazu trug ausgerechnet die Regulierung der Banken bei. Finanzinstitute müssen für jeden Kredit, den sie vergeben, eine bestimmte Menge Kapital vorhalten. Das begrenzt die Geldschöpfung für die Wirtschaft, aber auch die Möglichkeiten der Banken, Gewinn zu erzielen.

Deshalb verfielen die Bankmanager darauf, ihr Geschäftsmodell zu verändern: "Originate and distribute", hieß das neue Zauberwort, schaffe und vertreibe. Banken vergaben immer mehr Kredite, nur um sie gleich an Investoren weiterzureichen. Dafür kassierten sie sofort hohe Gebühren, anstatt dauerhaft niedrige Zinsen zu erhalten. Sie betrieben und finanzierten Zweckgesellschaften, über die Banken wiederum selbst und unter Umgehung von Eigenkapitalvorschriften in großem Stil in die strukturierten Produkte investieren konnten. Für eine ganze Generation von Investmentbankern war dies ein äußerst lukratives Geschäft. Ihre Boni kassierten sie unabhängig davon, welche Risiken die von ihnen geschaffenen Produkte für ihre eigene oder andere Banken bargen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Vorteile die neuen Finanzprodukte mit sich brachten.

Und sie hatten den Segen von Alan Greenspan. Die neuen Finanzprodukte machten das Finanzsystem viel flexibler, effizienter und widerstandsfähiger, weil Risiken breit gestreut würden, sagte der damalige Notenbankchef 2005. Nicht nur mit solchen Aussagen half er, die Finanzwirtschaft aufzuheizen. Nach den Terroranschlägen des 11. September senkte er die Leitzinsen bis auf ein Prozent und löste so einen einzigartigen Immobilienboom in Amerika aus, der dem Land später zum Verhängnis wurde. Zum anderen führten die niedrigen Zinsen dazu, dass Investoren heiß auf alles waren, was mehr Rendite versprach. So fanden zwei zusammen: amerikanische Hauskäufer und gierige Investoren. Dazwischen standen die Männer der Schattenwirtschaft. Sie vergaben Kredite auch an Leute ohne Einkommen, Arbeit und Vermögen - die so genannten Ninjas (no income, no job, no assets) - und reichten diese Papiere in die unendliche Weite der globalen Kapitalmärkte weiter.

Den Geldkreislauf erstickt

Die Ninjas waren das Kanonenfutter für das Schattenbanksystem. Doch solange die Immobilienpreise stiegen, bildeten sie eine lose Verbindung zwischen Realwirtschaft und dem aufgeblähten Schattenbanksystem. Solange Häuser teurer wurden und die Zinsen niedrig blieben, konnten auch Mittellose ihr gepumptes Eigenheim teurer weiterverkaufen und mit noch mehr Schulden ein neues finanzieren. Am meisten aber profitierten Banken und Schattenbanken von der Schuldenexplosion. 2007 zogen sie 40 Prozent aller Unternehmensgewinne in den USA auf sich. Sie wuchsen nicht mehr im Einklang mit Autoherstellern und Einzelhändlern, denen sie Kredite gaben. Sie wuchsen in dem Tempo, in dem sie Massenvernichtungswaffen bauten.

2005 aber stiegen die Zinsen und von 2006 an fielen die Häuserpreise, die Zahlungsausfälle häuften sich. Jetzt zeigte sich, dass die Risiken zwar überall in der Welt verteilt, aber nicht weg waren. "Die Atomisierung der Risiken hat sich als Problem herausgestellt", musste Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann erkennen. Atome sieht man nicht, sie können dennoch tödlich sein. Und weil niemand wusste, wer wie stark vergiftet war, begannen die Akteure des Banken- und Schattenbankensystems, einander zu misstrauen.

Sie erstickten den Geldkreislauf, der die Banken am Leben hält, und riskierten so aus Angst vor dem Tod den Selbstmord. Doch außer bei Lehman ließen die Regierungen das nirgendwo zu. Denn völlig losgelöst ist das Geldsystem eben doch nicht von der Realwirtschaft. Je tiefer die Banken die übrige Wirtschaft in den Abgrund zu reißen drohten, desto größer war die Bereitschaft der Regierungen und Notenbanken, sie aufzufangen. Die Wall-Street-Banken in ihrer alten Form sind verschwunden. Doch J.P. Morgan, Goldman Sachs, die Deutsche Bank und andere betreiben das Investmentbanking weiter. Jetzt auf kleinerer Flamme, doch sicher so bald wie möglich wieder in großem Stil.

Und die Schulden? Sind noch da. Sie werden jetzt nach und nach aus der Schattenbankwelt in die Staatshaushalte verschoben und von dort zu den Steuerzahlern der Zukunft. Aber vielleicht läuft dann die Wirtschaft wieder und bietet eine Basis, auf der die Finanzbranche zum nächsten Höhenflug ansetzen kann.

© SZ vom 01.12.2008/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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