Joachim Möller zur Arbeitsmarktpolitik:"Da wird an der Schraube gedreht"

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Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), über Zahlenkosmetik und sinnvolle Arbeitsmarktpolitik.

Sibylle Haas

SZ: Herr Professor Möller, wie viel Arbeitslose hätten wir ohne staatliche Förderung?

Joachim Möller (Foto: Foto: ddp)

Joachim Möller: Momentan sind etwa eine Million Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Diese Zahl müsste man zu den 3,4 Millionen offiziell arbeitslos Gemeldeten hinzurechnen, wenn es keine aktive Arbeitsmarktpolitik gäbe.

SZ: Außerdem gibt es noch Menschen, die nicht arbeitslos gemeldet sind, die aber gerne arbeiten würden.

Möller: Ja, wir schätzen diese sogenannte stille Reserve auf etwa 625000. Wenn man das alles zusammenzählt, kommt man in Deutschland auf gut fünf Millionen Menschen, die gerne arbeiten würden. Diese Rechnung ist aber zu schlicht, denn Arbeitsmarktpolitik soll die Menschen wieder in Arbeit bringen. Wobei sicher nicht alle Instrumente gleich gut wirken.

SZ: Bei einigen Maßnahmen hat man sogar den Eindruck, sie schönten lediglich die Statistik.

Möller: Das mag sein, dass dieser Eindruck entsteht, wenn man nur auf die ökonomischen Wirkungen schaut. Man muss aber auch berücksichtigen, dass es für das Selbstwertgefühl eines arbeitslosen Menschen gut ist, wenn er zum Beispiel in einer Kinderkrippe mithilft. Das hat außerdem auch einen gesellschaftlichen Wert. Möglicherweise hätten wir in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung ohne aktive Arbeitsmarkpolitik sogar soziale Unruhen gehabt. Arbeitsmarktpolitik wirkt auch heute noch stabilisierend.

SZ: Der Bundesrechungshof rügt, dass beispielsweise Ein-Euro-Jobs keine messbaren Erfolge bringen. Was läuft falsch?

Möller: Die Ein-Euro-Jobs dienen häufig zunächst der sozialen Stabilisierung. Oft geht es beispielsweise erst einmal darum, dass der Teilnehmer wieder Selbstvertrauen bekommt und einen festen Zeitablauf wiedergewinnt. Nach zehn Jahren Arbeitslosigkeit schafft es nicht jeder gleich auf Anhieb, einen Vollzeitjob durchzuhalten. Außerdem sind Ein-Euro-Jobs auch ein gutes Mittel, um die Arbeitsbereitschaft zu testen. Wenn man zum Beispiel den Verdacht hat, dass ein Hartz-IV-Empfänger schwarzarbeitet, lässt sich seine Arbeitsbereitschaft gut mit einem Ein-Euro-Job prüfen. Was die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt betrifft, so waren andere Instrumente, wie etwa die Förderung der Existenzgründung bisher sehr erfolgreich.

SZ: Müssten überflüssige Förderinstrumenten aber nicht viel konsequenter abgeschafft werden?

Möller: Wenn man nur die ökonomischen Wirkungen sieht, dann ja. Wenn man aber die sozialen Aspekte ebenfalls berücksichtigt, fällt die Bilanz anders aus.

SZ: Der Arbeitsminister will den arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkasten entrümpeln. Reicht das?

Möller: Eine Straffung ist sinnvoll, insbesondere auch eine Zusammenlegung ähnlicher Instrumente. Dabei ist es sehr wichtig, dass der Vermittler in der Arbeitsagentur einen gewissen Spielraum in der Ausgestaltung der Instrumente hat. Er kann am besten einschätzen, was der Arbeitslose braucht.

SZ: Es gibt immer wieder Versuche, die Arbeitslosigkeit kleinzurechnen, je nach dem, wie man sie definiert. Die große Koalition dreht bei den Älteren an der Statistik. Ist das seriös?

Möller: Es gab immer diese Versuche. Das finde ich sehr bedenklich. Unter der Bundesregierung von Helmut Kohl wurde beispielsweise entschieden, dass 58-Jährige Arbeitslosengeld bekommen, ohne für die Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stehen - und ohne bei der monatlich verkündeten Arbeitslosenzahl mitgezählt zu werden. Das war faktisch eine Art Frühverrentung. Unter der großen Koalition fallen künftig Langzeitarbeitslose über 58 Jahre aus der Arbeitslosenstatistik, wenn ihnen nicht innerhalb eines Jahres ein konkretes Jobangebot gemacht werden kann. Das sind Entscheidungen, die ich nicht nachvollziehen kann. Da wird in der Tat an der Statistikschraube gedreht.

SZ: Wie viele Arbeitslose werden wir in diesem Jahr haben?

Möller: Ich rechne mit 3,4 Millionen, vielleicht sogar etwas weniger Arbeitslosen. Die deutsche Wirtschaft ist robust. Es werden noch immer neue Stellen aufgebaut.

SZ: Ist Vollbeschäftigung in Deutschland möglich?

Möller: Vollbeschäftigung ist ein realistisches Ziel, aber sie kommt natürlich nicht von selbst. Die Bildungspolitik wird eine wichtige Rolle spielen. Wir müssen mehr für die Ausbildung junger Menschen und für die Qualifizierung Älterer tun.

SZ: Wann könnten wir Vollbeschäftigung haben?

Möller: In einigen Regionen Süddeutschlands haben wir sie ja schon heute. Wenn die Konjunktur gut läuft, wenn wir die Bildungspolitik ernst nehmen und deutlich mehr in Bildung investieren, dann könnten wir in zehn bis 15 Jahren Vollbeschäftigung haben.

© SZ vom 27.05.2008/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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