Italien:Das letzte Aufgebot

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Italiens Premier Mario Draghi muss gewaltige Aufgaben lösen: die Folgen der Corona-Pandemie bewältigen und Widerstände im eigenen Land überwinden. (Foto: Cecilia Fabiano/AP)

Regierungschef Mario Draghi muss das schaffen, woran seine Vorgänger gescheitert sind: das Land aus seinen Fesseln zu befreien. Internationale Unterstützung ist dem früheren EZB-Chef sicher, die Gefahr lauert an anderer Stelle.

Von Ulrike Sauer

Wann redet Mario Draghi? Man fragt sich das, seit im Regierungsamt Palazzo Chigi mit dem früheren EZB-Chef die Stille einkehrt ist. Kein Sterbenswort drang von ihm in die Öffentlichkeit seit seiner Regierungserklärung am 18. Februar im Parlament. In Rom witzelt man nun, dass Draghi erst dann etwas sagen wird, wenn er den Palazzo Chigi verlässt, um den Italienern mitzuteilen: "Ich bin fertig."

Seit drei Wochen macht der Schweiger die krisenmüden Italiener mit einer ungewöhnlichen Regierungsmethode bekannt. Entscheidungen statt Pressekonferenzen. Fakten statt Facebook-Livestreams. Kurze Meetings mit den engsten Mitarbeitern statt nächtelanger Sitzungsmarathons. Pragmatik statt leerer Rhetorik.

Das ist nicht nur eine Frage des Stils. Draghi hat in Rom einen brüsken Gangwechsel vollzogen. Genau das hatte man auch von ihm erwartet. Der 73-Jährige soll dafür sorgen, dass Italien den Rettungsring noch erwischt, den die europäischen Partner dem südlichen Nachbarn im vergangenen Juli zugeworfen haben: 209 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds Next Generation EU. Eile ist geboten: Bis 30. April muss in Brüssel ein detaillierter Investitionsplan vorliegen. Die Regierung muss in sieben Wochen erklären, wie sie nun ausnahmsweise einen fristgerechten und effizienten Einsatz der gigantischen Geldsumme gewährleisten kann.

Im Finanzministerium hinter den Diokletiansthermen schreiben sie den vagen Plan der Regierung von Giuseppe Conte neu. Anschließend müssen das Kabinett und das Parlament ihn verabschieden. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

Draghi wechselt Personal an den Schaltstellen aus

Zweierlei verändert sich in Rom gerade schlagartig: das Personal an den Schaltstellen und die internationale Rolle des Landes. Beides gilt als Voraussetzung, um dank der solidarischen Zukunftsinvestitionen Europas nach drei Jahrzehnten Stagnation in dem Schuldenland ein spürbares Wirtschaftswachstum anzufachen. Es ist die letzte Chance für Italien. Scheitert der Versuch, bricht das Land unter der durch die Pandemie rasant gestiegenen Schuldenlast von 158 Prozent zusammen.

Der Antritt Draghis beendete die außenpolitischen Seitensprünge unter seinem Vorgänger Conte. Die Flirts mit Donald Trump, mit Moskau und mit Peking sind Vergangenheit. Italien ist zurück, als aktiver Partner des Westens. Draghi verfügt über exzellente Kontakte auf beiden Seiten des Atlantiks. Als EZB-Chef arbeitete er eng mit dem damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden zusammen. Seine einstige Kollegin, die frühere amerikanische Notenbankchefin Janet Yellen, ist inzwischen US-Finanzministerin. Heilfroh zeigt man sich in den europäischen Hauptstädten, den Retter der Euro-Zone nun als römischen Premier an der Seite zu haben.

Viel komplizierter ist allerdings das Heimspiel des Römers. Zu Hause muss Draghi mit Strukturreformen einen leistungsfähigen Staat aufbauen, der die durchaus vitalen Wachstumskräfte der Wirtschaft nicht länger abwürgt. Es ist das Problem Italiens. Schon seit Anfang der 1990er-Jahre. An der Aufgabe sind 17 Regierungen gescheitert. Draghi hat nun erfahrene Fachleute seines Vertrauens zusammengetrommelt. Sie sollen die italienische Bürokratie aus den Angeln heben. Die Elitetruppe wirkt wie das letzte Aufgebot.

Eine Statue steht vor dem Palazzo del Quirinale, dem Sitz des Präsidenten von Italien, auf dessen Dach die Flaggen Italiens und der EU wehen. Nach einem kräftigen Konjunktureinbruch fühlt sich das Land nun wieder stark. (Foto: dpa)

Man könnte das Team auch als Auswahl verdienstvoller Antipopulisten betrachten. Draghis rechte Hand im Palazzo Chigi, der Jurist Roberto Garofoli, und der neue Finanzminister Daniele Franco, zuletzt die Nummer zwei der römischen Notenbank, bekleideten 2018 zur Zeit der antieuropäischen Conte-Regierung mit den Fünf Sternen und der Lega hohe Posten im Finanzministerium. Dort zogen sie sich mit ihrer genauen Prüfung der Haushaltspläne den Zorn der Koalition zu. Man werde "alle diese Scheißkerle im Finanzministerium rauswerfen", wetterte Contes Regierungssprecher. Gemeint waren Garofoli und Franco. Sie stiegen nun zu den engsten Mitstreitern Draghis auf.

Auch auf drei weiteren Schlüsselposten für die Verwendung der Milliarden aus dem europäischen Aufbaufonds nahmen Experten Platz, deren Kompetenz den vorherigen Regierungen nichts wert war. Conte hatte im April 2020 den früheren Vodafone-Chef Vittorio Colao damit beauftragt, eine Strategie zum Wiederaufbau Italiens nach der Corona-Krise auszuarbeiten. Seinen 102-Punkte-Plan für den Neustart nahm Conte kühl entgegen und ließ ihn achtlos in einer Schublade verschwinden. Ein Follow-up? Nachfragen? Nichts.

Nun übernahm der international bekannte Manager das neue Ministerium für "Digitalen Wandel". Der Mobilfunk-Pionier Colao soll die Versäumnisse der Vergangenheit nachholen und das Land digital fit machen. Seinem Team mit 20 Mitgliedern gehörte im vergangenen Frühjahr auch der Ökonom Enrico Giovannini an. Er führt nun das umbenannte Ministerium für Infrastrukturen und nachhaltige Mobilität.

Das größte Problem sind die Beharrungskräfte der Bürokratie

Was Giovannini dort auf seinem Schreibtisch vorfand, erklärt das Unvermögen, die Beharrungskräfte der italienischen Bürokratie zu bezwingen. Aus dem Versagen folgt zum Beispiel, dass derzeit 749 finanzierte Bauprojekte im Wert von 62 Milliarden Euro blockiert sind. Oder dass Italien im Februar 2021 nur 40 Prozent der EU-Strukturfonds für die Jahre 2014 bis 2020 ausgegeben hatte. Der neue Minister erbte von der alten Regierung die Ernennungsurkunden für 52 Sonderbeauftragte, die mit außerordentlichen Befugnissen die Realisierung von 58 Großprojekten beschleunigen sollen. Die Bauvorhaben waren vor sieben Monaten als besonders dringend eingestuft worden. Nur: Bisher existieren sogar die Sonderkommissare allein auf dem Papier. Wie auch das ganze Reformpaket, mit dem Conte eine "beispiellose Revolution" auslösen wollte. Giovannini sucht nun andere Lösungen, um die Blockade Italiens aufzuheben.

Draghis interessanteste Innovation ist die Einrichtung des Ministeriums für "Ökologischen Wandel", dem er auch die Verantwortung für den Energiesektor zuschlug. "Um die Zukunft des Planeten zu schützen, ist eine neue Herangehensweise nötig", sagte er in der Regierungserklärung. Sein Mann für diesen Paradigmenwechsel ist der charismatische Physiker Roberto Cingolani, der 14 Jahre lang das von ihm mitgegründete Technologieinstitut IIT in Genua geleitet hat und zuletzt als Entwicklungschef beim Raumfahrt- und Rüstungskonzern Leonardo tätig war. Von ihm hängt ab, ob Italien den Großteil der EU-Hilfen kassieren kann: 69 Milliarden Euro sind für den grünen Wandel vorgesehen.

Dazu muss es Cingolani mit der Bürokratie aufnehmen: Der Ausbau der erneuerbaren Energien stockt in Italien, weil die Betreiberfirmen die dicke Luft in den Amtsstuben wittern und lieber im Ausland investieren. Bei der letzten Ausschreibung der Netzagentur wurden nur knapp 25 Prozent der Fördermittel für Solaranlagen und Windräder abgerufen. Bei diesem Tempo wird Italien sein Klimaziel für 2030 erst im Jahr 2085 erreichen. Draghi aber versprach: "Wir wollen einen guten Planeten hinterlassen, nicht nur eine gute Währung."

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