Italien:Auf in die Hölle

Lesezeit: 3 min

Die geplatzte Regierung in Rom hinterlässt ein desaströses Erbe. Die Nachfolger müssen zügig eine erneute Rezession verhindern - und einen Rückfall in die Schuldenkrise.

Von Ulrike Sauer, Rom

"Uns haben alle verraten", sagt Donato Aiello. Er besetzt seit 90 Tagen mit Kollegen das Werk des US-Konzerns Whirlpool in Neapel. Das Unternehmen will die 412 Mitarbeiter entlassen und die Waschmaschinenproduktion aus Italien abziehen, um anderswo günstiger zu fertigen. Als Industrieminister Luigi Di Maio, der in der Vesuvstadt bei den Wahlen vor anderthalb Jahren mit seiner Partei Cinque Stelle 50 Prozent der Stimmen errungen hatte, endlich reagierte, war es viel zu spät. Anfang August, auf der letzten Kabinettssitzung vor dem Auseinanderbrechen der Koalition mit der Lega, verabschiedete die Regierung eine Verordnung zur Rettung einiger von der Schließung bedrohter Unternehmen.

Für das Whirlpool-Werk in Neapel lobte Di Maio 17 Millionen Euro Steuererleichterungen aus. Der US-Konzern lehnte ab. Überhaupt blieb die Aktion wirkungslos, denn das Eilgesetz war unter der Formel "Künftige Einigung vorausgesetzt" auf den Weg gebracht worden. Eine Scheinlösung, wie so oft in den zurückliegenden fast 450 Tagen, in denen die Koalition im permanenten Wettstreit um Popularität selten Einmütigkeit an den Tag legte. Zwei Tage später sprengte Lega-Chef Matteo Salvini die Koalition. Die Populistenregierung stürzte und ihre letzte Gesetzesinitiative blieb auf der Strecke. Aiello sagt: "Wir stehen wie immer alleine da".

Im Stich gelassen fühlen sich auch die Beschäftigten der größten Stahlhütte Europas. Im süditalienischen Tarent hängt das Schicksal von 14 000 Stahlarbeitern in der Luft. Di Maio entzog im Juni den Managern des Weltkonzerns Arcelor-Mittal, der 2017 den insolventen Stahlhersteller Ilva für 1,8 Milliarden Euro übernommen hatte, die Immunität. Der Schutz war dem Investor zugesichert worden, um die neuen Chefs von der Verantwortung für Umweltschäden zu entbinden, die von ihren Vorgängern verursacht worden waren. Arcelor droht, die Produktion in Tarent mit dem Wegfall des Rechtsschutzes am 6. September zu stoppen. Die Regierung versuchte mit der Eilverordnung Anfang August, die Immunität wiederherzustellen. Das kam aber zu spät.

Whirlpool und Ilva sind keine Ausnahmefälle. Sie sind Embleme einer tiefen Industriekrise Italiens. Bei Alitalia läuft Mitte September zum fünften Mal die Abgabefrist für eine verbindliche Übernahmeofferte ab, die den Pleitekandidaten retten soll. In 158 Unternehmen bangen derzeit 240 000 Beschäftigte um ihren Arbeitsplatz und blicken nach Rom, wo das Industrieministerium zusammen mit Firmen und Gewerkschaften eigentlich Lösungen anbahnen sollte.

Schon jetzt wird 40 Prozent mehr Arbeitslosengeld ausgezahlt als noch vor einem Jahr

Welchen Ausweg aus der surrealen Regierungskrise die Parteien bis Mittwochabend dem italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella vorschlagen, bleibt ungewiss. Egal ob sich eine neue Koalition zusammenrauft oder im November Neuwahlen abgehalten werden, klar ist: Vor Italien liegen enorme Herausforderungen in der Haushaltspolitik und in der Bekämpfung der heraufziehenden Rezession, der dritten in nur einem Jahrzehnt.

Die italienische Wirtschaft wächst seit vier Quartalen nicht mehr. Im Juni war die Summe des ausgezahlten Arbeitslosengelds gegenüber dem Vorjahresmonat um 42,6 Prozent gestiegen.

Brisant ist die Lage, weil sich zu den hausgemachten Problemen eine internationale Konstellation extrem ungünstiger Faktoren gesellt. Die globale Konjunkturabkühlung, Trumps Handelskrieg, angekündigte US-Strafzölle, ein harter Brexit und nun auch noch eine mögliche Rezession beim wichtigsten Partner Deutschland drohen die stark auf den Export ausgerichtete italienische Wirtschaft ins Mark zu treffen. Der Konsum in Italien stagniert seit vielen Jahren, die Investitionen sind rückläufig. Brechen nun auch noch die Ausfuhren ein, wird der steile Weg aus der Schuldenkrise für die Italiener wohl unerträglich. Die Risiken sind enorm: Der Handelsbilanzüberschuss mit den USA ist auf 32 Milliarden Dollar gestiegen. In Großbritannien setzen die Italiener Waren im Wert von 25 Milliarden Euro ab. Die Deutschen kaufen südlich der Alpen für 58 Milliarden Euro ein. "Wenn es der deutschen Industrie nicht gut geht, kann Italien schwerlich wachsen", sagt Luca Mezzomo, Volkswirt der Mailänder Großbank Intesa Sanpaolo. Ohne Wachstum sinken die Chancen der Italiener, ihr Schuldenproblem zu entschärfen. Die Staatsverschuldung ist im Juni auf den neuen Rekordstand von 2386 Milliarden Euro gestiegen. Bereits in sechs Wochen muss Rom der EU-Kommission die Haushaltsplanung für 2020 vorlegen.

Die gestürzte Regierung hinterlässt ein schweres Erbe. "Hölle 2020" nennen Beobachter am Finanzmarkt das, was die neue Regierung bei der Ausarbeitung des Etats für das kommende Jahr erwartet. Alle haben das vorrangige Ziel, die im vergangenen Jahr zugesagte Anhebung der Mehrwertsteuer von 22 auf 25,2 Prozent zu verhindern. Sie würde den Durchschnittshaushalt 541 Euro kosten und die Konjunktur belasten. Um die europäischen Defizitvorgaben einzuhalten und einem EU-Strafverfahren aus dem Weg zu gehen, müsste die Regierung das Minus im Haushalt in Höhe von 23 Milliarden Euro anders ausgleichen. Rechnet man weitere Posten sowie sieben Milliarden Euro niedrigere Einnahmen infolge der Wachstumsschwäche hinzu, fehlen 35 Milliarden Euro, um die Neuverschuldung 2020 wie versprochen auf 1,8 Prozent zu begrenzen. Spielraum für Wachstumsmaßnahmen: gleich Null.

Im Nacken sitzen werden der neuen Regierung in den kommenden Wochen auch die Anleger. Schon im September muss das römische Schatzamt Staatsanleihen im Wert von 56 Milliarden Euro zurückzahlen. Bis zum Jahresende müssen 125 Milliarden Euro neufinanziert werden. Am 6. September wird die Ratingagentur Moody's die Kreditwürdigkeit Italiens im Licht der politischen Instabilität überprüfen. Ihre Note liegt nur noch eine Stufe über dem Ramschniveau.

© SZ vom 28.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: