Industrie:Umstrittene Messlatte

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Keine Maschinen, keine Kohle, keine Blaumänner: Ein Blick in den die Zentrale des Software-Konzerns SAP in Walldorf, Baden-Württemberg, einem Vorzeigeunternehmen des Dienstleistungssektors. (Foto: Krisztian Bocsi/Bloomberg)

Wirtschaftsminister Altmaier will den Industrieanteil in der deutschen Wirtschaft steigern. Das klingt gut - aber würde es dem Land wirklich helfen? Bis zur Finanzkrise galten Länder mit vielen Dienstleistungen als modern.

Von Karl-Heinz Büschemann

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) macht sich um die deutsche Wirtschaft offenbar große Sorgen. Deutschland müsse die "eigenen wirtschaftlichen Interessen konsequent wahren", sagte er jüngst bei der Vorstellung der "Nationalen Industriestrategie 2030". Und dafür greift er zu Mitteln, die zu seiner Partei nicht zu passen scheinen, die traditionell den Prinzipien des Marktes verpflichtet ist. Altmaier, der seit knapp einem Jahr das Amt innehat, das einst durch den liberalen Markt-Prediger Ludwig Erhard geprägt wurde, ist entschlossen, den Gang der Volkswirtschaft nicht mehr dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Der Staat müsse helfen, mit einer Industriepolitik, die auch vor Eingriffen in das Wirtschaftsgeschehen nicht zurückschrecke. Mit Hilfe der Politik will er den Anteil der Industrie am deutschen Sozialprodukt bis zum Jahr 2030 auf 25 Prozent heben.

Das klingt so, als sei der Anteil der Industrie am deutschen Sozialprodukt, der heute bei 23 Prozent liegt, so klein und der Bereich Dienstleistungen so überdimensioniert, dass diese Unwucht mit politischen Mitteln unbedingt aufgebessert werden müsse. Den Wirtschaftsminister treibt um, dass Länder wie China und zunehmend auch die USA zunehmend in das Geschehen auf den Weltmärkten eingreifen. Deutschland müsse darauf reagieren, um "seine Arbeitsplätze und den Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger langfristig sichern und ausbauen".

Einen ähnlichen Industrieanteil haben Länder wie die Philippinen und Kolumbien

Tatsächlich ist es bis zum angestrebten Ziel von einem Viertel gar nicht mehr so weit. Aber es bleibt die grundlegende Frage: drückt sich im Anteil der Industrie am Sozialprodukt eine strukturelle Schwäche der deutschen Wirtschaft aus? Böse gesagt lag Deutschland mit seinem Industrieanteil (einschließlich der Bauindustrie) im Jahr 2017 genau zwischen Ländern wie den Philippinen und Kolumbien. Das könnte man als problematisch für ein Land wie Deutschland werten. Zumindest sagt der Prozentsatz allein wenig über die Wirtschaftskraft eines Landes aus.

In der EU liegt Deutschland mit seinem Industrieanteil in der Spitze. Nur Irland und Kroatien hatten im Jahr 2017 einen höheren Wert als die Bundesrepublik. Alle anderen Länder liegen deutlich darunter. Großbritannien hat einen Industrieanteil von 19 Prozent, dafür ist die Finanzwirtschaft dort stark. Griechenland weist nur 16 Prozent auf. Frankreich bietet immerhin noch 20 Prozent auf. Die USA, noch immer eine wirtschaftliche Führungsmacht der Welt, liegen bei 20 Prozent. Die aufstrebende Wirtschaftsmacht China bringt es allerdings auf 40 Prozent. Wegen der mangelnden Aussagekraft dieses für Altmaier scheinbar entscheidenden Prozentsatzes kommt Tomaso Duso, Ökonom vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, zu dem Urteil, dass es unklug ist, wenn Wirtschaftsminister Altmaier eine höheres Marke setzen will. "Es ist nicht sehr sinnvoll, solche Ziele zu setzen", sagt der Wirtschaftsprofessor. "Der Staat sollte das nicht vorschreiben, er kann es auch gar nicht". Allerdings sagt Duso auch, dass ein starker Industrieanteil am Sozialprodukt für die deutsche Volkswirtschaft "prinzipiell gut" ist.

Bis zur Finanzkrise galten Länder mit vielen Dienstleistungsfirmen als besonders modern

Aufgrund seines vergleichsweise hohen Industrieanteils am Sozialprodukt hat die Bundesrepublik die Finanzkrise vor zehn Jahren besser überstanden als andere Länder, in denen der Dienstleistungs- und Finanzsektor stärker vertreten ist. Seitdem hat sich in Politik und Wirtschaft die Meinung verfestigt, der Ausbau der Dienstleistungsbereiche, der lange als Anzeichen für die Modernität einer Wirtschaft galt, sei nicht mehr das erstrebenswerteste Ziel. Selbst Länder wie Frankreich oder Großbritannien schauten plötzlich mit Neid auf die Deutschen und die EU empfahl ihren Mitgliedern, besser den Anteil der Industrieproduktion wieder zu erhöhen.

Jahrzehntelang galt es als ausgemacht, dass sich Volkswirtschaften durch verschiedene Stadien entwickeln: Am Anfang steht die vom Ackerbau beherrschte Volkswirtschaft. Später entwickelt sie sich zur Industriegesellschaft mit einem hohen Anteil von Fabriken und danach kommt die Dienstleistungsgesellschaft, die industrielle Fertigung von Produkten anderen Ländern überlässt und sich selbst schrittweise in eine Wissens- und Service-Ökonomie verwandelt.

Ein solches Muster lässt sich auch in der deutschen Wirtschaftsgeschichte erkennen. Im 19. Jahrhundert stieg Deutschland zur Industrienation auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Rückgang der Industrieproduktion sichtbar. Sie drückte sich besonders durch den Niedergang der Stahlindustrie und der Kohlewirtschaft aus. Im Jahr 1978 befanden sich in der Gruppe der 25 deutschen Unternehmen mit der größten Wertschöpfung nur drei Dienstleister: IBM Deutschland, die Deutsche Bank und die Warenhauskette Karstadt. Im Jahr 2016 war schon ein Dutzend der Firmen im Dienstleistungssektor zu Hause, darunter Weltkonzerne wie die Telekom, SAP oder Allianz. Das Lohnkostengefälle zu anderen Ländern und die moderne globale Arbeitsteilung sowie die Digitalisierung hatten dafür gesorgt, dass viele Industriearbeitsplätze aus Deutschland abgewandert sind. Nicht nur deutsche Autounternehmen zogen Fabriken in Osteuropa, China oder in Amerika hoch.

Aber die deutsche Wirtschaft hat den scheinbar unausweichlichen Trend weg von der Industriegesellschaft gestoppt. Seit der Finanzkrise ist der Anteil der industriellen Produktion in Deutschland wieder gewachsen. Und zwar ganz ohne das Zutun von aktiver Industriepolitik.

Es kommt aber offenbar nicht nur darauf an, mit welchem Prozentsatz die Industrie am Sozialprodukt beteiligt ist, sonst wäre das afrikanische Angola mit einem Industrieanteil von über 60 Prozent die Spitzennation der Weltwirtschaft. Entscheidend ist die Qualität der Industrieleistung. Und Tomaso Duso vom DIW ist von der Leistungsfähigkeit der deutschen Industriekonzerne überzeugt. Vor allem lobt er den Beitrag des Mittelstandes, der ein Motor des wirtschaftlichen Erfolges in Deutschland sei. "Bei der technologieintensiven Industrie hat Deutschland immer noch einen Vorteil gegenüber China", sagt der Berliner Ökonom.

Für die Bundesregierung gebe es daher keinen Grund, an einem höheren Industrieanteil zu arbeiten. Die Regierung habe allerdings die Aufgabe, "Rahmenbedingungen zu setzen, in denen die Industrie erfolgreich sein kann". Die Bundesregierung sollte "eine breite Innovations- und eventuell Technologieförderung betreiben, die auch dem starken Mittelstand zu Gute kommt". Diese Förderung sollte "wettbewerbskonform sein und nicht die großen Konzerne noch marktmächtiger machen." Daraus ergebe sich die Entwicklungschance einer erfolgreichen Industrie.

So ähnlich sieht das übrigens auch Wirtschaftsminister Altmaier. Er hält die deutsche Wirtschaft nicht nur für erfolgreich, weil sie an ihrem industriebasierten Wirtschaftsmodell festgehalten habe. Er macht den Unternehmen auch ein Kompliment: "Die deutsche Wirtschaft ist hoch wettbewerbsfähig und innovationsstark."

© SZ vom 13.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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