Indien und die Krise:Im Bann der Maharadschas

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Indiens reiche Unternehmer haben in der Krise viel Geld verloren. Und doch meistert das Land die Probleme erstaunlich gut. Die Erfolgsrezepte Indiens -

Oliver Meiler

Da vorne wieder, vor dem Eingang zum "Signature Tower", einem Büroturm aus Stahl und Glas mitten in Gurgaon: eine Herde Wildschweine. Kaum jemand scheint sie wahrzunehmen, weder die Arbeiter mit weißen Hemdkragen, die unbeeindruckt einen Bogen um sie machen und zur automatischen Schiebetür streben. Noch die Fahrer, die ihre Herrschaften zur Arbeit gefahren haben und nun herumstehen in der staubigen Hitze Nordindiens, die Arme verschränkt, den Feierabend der Herrschaften erwartend. Die Wildschweine haben sich ihr Revier gut ausgewählt.

Alt und neu, dicht gedrängt nebeneinander: Das ist Gurgaon, die neue Stadt vor den Toren Delhis, in der fast alle großen Konzerne ihre Hauptquartiere angesiedelt haben. (Foto: Foto: AFP)

Es ist ein Stück getrimmter Rasen, der als Teil eines größer angelegten, aber nie realisierten Parks gedacht war. Rund um die Uhr läuft eine Sprinkleranlage, der Boden ist aufgeweicht, die rote Erde drückt durch. Eine Wonne für ein Wildschwein. Auch den Kühen, den heiligen, gefällt' s hier, sie liegen auf den Verkehrskreiseln und auf den Parkplätzen vor der "Galeria", dem Einkaufszentrum für die reichen Bewohner der nahen Wohnanlagen, die hier "Central Park", "Greenwood", "Richmond" heißen. Wer wagt schon, die Kühe zu vertreiben. Selbst Kamelen begegnet man in Gurgaon, die Wüste Rajasthans ist nicht weit. Alles ist da, alles nicht perfekt, alles durcheinander: das Heute, Gestern, Morgen.

Aus dem Nichts gewachsen

Gurgaon ist der modernste Ort Indiens, ein Spiegel der Ambitionen der aufstrebenden Großmacht. Hier haben fast alle indischen und ausländischen Konzerne ihre protzigen Hauptquartiere, die Banken, die Mobilfunkoperateure, die Outsourcer, die Autokonzerne. Hier gibt es "Ambience", eine Shopping-Mall so groß und glänzend, dass die Originale aus Amerika niemanden mehr neidisch machen. Und teure Restaurants gibt es auch - neben den Behelfshütten der Armen.

Gurgaon ist vermutlich der Ort in Indien, an dem die Folgen der Wirtschaftskrise am unmittelbarsten zu sehen sind. Die Vorstadt Delhis ist mit einer mehrspurigen Schnellstraße mit der Hauptstadt verbunden, einem neuen Expressway, der am Internationalen Flughafen vorbeiführt. Zwanzig Minuten reichen, wenn der Verkehr nicht verrückt spielt, und das tut er natürlich meistens. Bald wird die U-Bahn fertig sein, sie wird die Leiden des Wartens lindern.

Gurgaon ist in wenigen Jahren aus dem Nichts gewachsen und es bietet alles, was die neue indische Mittelschicht und die gut bezahlten "Expats", die Fachkräfte aus dem Ausland, wünschen. Menschen wie Asela Gunawardena zum Beispiel, 43, ein Manager von Nokia, geboren in Sri Lanka, ausgebildet in den USA: "Indien ist ein verrücktes Land", sagt er, "alles ist anders: die Geschäftskultur, der Arbeitsrhythmus, das Alltagsleben. Gurgaon erlaubt eine etwas sanftere Landung - halb Indien, halb Westen."

Reichtum mit "Shining India"

Gebaut hat die Stadt ein Mann fast ganz alleine: Kushal Pal Singh, Milliardär und Konzernchef von Delhi Leasing and Finance, kurz DLF, Indiens größtem Bauunternehmen. Singh profitierte von billigem Land in Gurgaon und von Steuergeschenken des Staates. Er zog Hochhäuser hoch, gleich dutzendweise, mit Swimmingpools in den Innenhöfen, abgeschottete Wohnanlagen für den wachsenden Mittelstand Delhis, der sich nach Ruhe und Sicherheit sehnte und bereit war, viel Geld dafür zu bezahlen. Massiv sind auch die Büroanlagen von DLF. Auf vielen Dächern der Stadt thront ein Neonschild der Firma, als gelte es, ein architektonisches Wunder zu feiern.

Kushal Pal Singh wurde sehr, sehr reich mit seinem Modell für "Shining India". Nichts schien seinen Aufstieg stoppen zu können. Die indische Wirtschaft expandierte im vergangenen Jahrzehnt mit Wachstumsraten von bis zu neun Prozent pro Jahr. Die Mittelschicht, Singhs Kundschaft, wurde jedes Jahr um einige Millionen größer. Bis vor einem Jahr war das so. In der Euphorie des Booms ging so manche Warnung unter.

Nun zählt der 77-jährige Baumagnat plötzlich zu den größten Verlierern der Krise. Weltweit. Laut dem US-Magazin Forbes, das gerne Ranglisten erstellt, hat Singh im vergangenen Jahr 25 Milliarden Dollar Privatvermögen verloren, das meiste an der Börse. Arm ist die Nummer fünf unter Indiens reichsten Unternehmern deshalb nicht, es bleiben ihm laut Forbes 7,6 Milliarden Dollar. Doch was für ein Absturz, welch' Trendwende in einem einzigen Jahr für einen "Maharadscha der Moderne". So nennen sie in Indien die Großindustriellen, die Ambanis, Mittals, Tatas und Singhs. Sie haben so viel Macht angehäuft wie früher die Prinzen und die Fürsten. Einige von ihnen ließen sich von derselben Gier leiten wie die Nimmersatten im Westen. Und sie finanzierten ihre Expansion auf Pump bei internationalen Banken, welche nun nicht mehr so einfach Kredite vergeben.

Im zweiten Teil: Welche Bereiche der indischen Wirtschaft leiden - und warum der Chef des Billigauto-Produzenten Tata besonders betroffen ist.

Mindestens zwischenzeitlich, unter dem Druck der Krise, hat die Grundidee von DLF Glanz verloren. Das Konsumvertrauen der indischen Mittelschicht ist geschrumpft, der Wunsch nach Luxus vorübergehend erlahmt. Niemand weiß genau, ob die Skepsis gerechtfertigt ist oder nur panisch. Noch scheint es nämlich, als könnte die indische Wirtschaft die Krise vergleichsweise unbeschadet überstehen - gestützt vom Konsum seiner großen Bevölkerung.

Das suggerieren jedenfalls die Schlagzeilen der Wirtschaftszeitungen, die den Sonderfall Indiens hervorheben und dessen Vorzüge loben: einen streng regulierten Finanzsektor, eine schier unerschöpfliche Konsumentenschar, eine schwache Exportabhängigkeit und großes Potential beim Ausbau der Infrastruktur. Optimistisch ist auch die Zentralbank, die für dieses Jahr ein Wachstum von sechs Prozent voraussagt, deutlich mehr als der Internationale Währungsfonds. Ist sie damit zu optimistisch?

Baisse trifft Maharadscha

Immerhin hat die Krise auch tiefe Spuren hinterlassen. Hart getroffen wurde etwa der exportorientierte Handel mit Edelsteinen und mit Textilien, wo allein in den vergangenen Monaten mehrere Millionen Stellen verloren gingen. Der IT-Sektor, Indiens Vorzeigebranche, wächst weniger stark als bisher. Die drei großen Betriebe dieser Branche - Tata Consultancy Services, Wipro und Infosys - hangeln sich derzeit mit Weiterbildungskursen für ihre Mitarbeiter durch die Flaute und hoffen auf eine baldige Erholung des Westens, dem sie als Backoffice dienen.

In einem kritischen Zustand ist auch das obere Segment des Immobilienmarkts - Singhs Nische. Die Preise fallen, die Profite sind weggebrochen. Singh habe etliche Großprojekte gestoppt oder verkleinert und Angestellte entlassen. Die Baustelle für die "Mall of India" ist eine gigantische Grube. Und es mehren sich die Stimmen, die vor dem baldigen Platzen der Immobilienblase warnen. Shankkar Aiyar etwa, einer der führenden Wirtschaftspublizisten Indiens. "Wir sollten das Schicksal von DLF im Auge behalten, das ist ein taumelnder Gigant", sagt er und warnt: "Wenn das Geschäft aus dem Ruder gerät, hätte das katastrophale Folgen für den ganzen Markt."

Singh ist nicht der einzige. Die Baisse an der Börse hat auch viele anderen modernen Maharadschas getroffen: Anil Ambani, 49 Jahre alt und Erbe einer Wirtschaftsdynastie aus Mumbai, ein großer Spieler im Kommunikationsgeschäft und in der Film- und Unterhaltungsbranche. Er verlor im vergangenen Jahr 32 Milliarden Dollar, so viel wie sonst niemand auf der Welt und, wohl noch ärgerlicher für ihn, neun Milliarden mehr als sein Bruder und Rivale, der Ölmilliardär Mukesh Ambani, der reichste Inder. Auch Stahlbaron Lakshmi Mittal, der Chef von Arcelor Mittal, der in London wohnt, hat wegen schwacher Stahlpreise mehr als 25 Milliarden Dollar verloren.

Ernüchternd fiel das vergangene Jahr vor allem für Ratan Tata aus, den 70-jährigen Vorsitzenden des gleichnamigen Mischkonzerns, Indiens größtem Privatbetrieb. Die Fortüne, die dem bescheiden lebenden Junggesellen zuvor immer hold war, hat ihn erstmals verlassen. Der Kauf von Jaguar und Land Rover im vergangenen Jahr erwies sich als denkbar schlecht getimt. Auch sein Billigauto Nano, eine Weltsensation, kommt nun mit großer Verspätung just zu einem Zeitpunkt auf den Markt, da die Kauflust vieler Inder der Mittelschicht ermattet ist. Zwischenzeitlich.

Knappe Löhne

Die Lust wird wiederkehren, sagen viele Experten, bald schon. Und mit ihr das starke Wachstum. Der aktuelle Einbruch sei nur ein Durchhänger, ein kurzes Time-out beim Aufstieg. Der Ökonom Shankkar Aiyar glaubt, dass die Welt noch staunen werde über Indien: "Unsere größten Herausforderungen sind gleichzeitig unsere besten Chancen", sagt er und meint damit Indiens Milliardenbevölkerung, den riesigen Markt. Noch leben hier 300 Millionen Menschen in bitterster Armut. Wenn es gelänge, sie zu Konsumenten zu machen, könnte das dem Land einen gewaltigen Schub bringen. Dafür allerdings, sagt Aiyar, müsste die Politik die Umverteilung ernsthafter als bisher in Angriff nehmen.

Die meisten Inder bestreiten ihr Leben mit Verdiensten, die sie im informellen Sektor erwirtschaften und die in keiner offiziellen Statistik aufscheinen. Gut sind diese Verdienste nicht, aber meistens reichen sie knapp aus. Der junge Mann mit der flatternden Hose zum Beispiel, der vor dem "Signature Tower" in Gurgaon Limonade und Kartoffelchips verkauft. Jeden Morgen schiebt er seine Holzkarre über löchrige Straßen, an den Wildschweinen vorbei, zum Eingang des modernen Büroturms. Seine Kunden sind nicht die Herrschaften mit den weißen Hemdkrägen, sondern deren Fahrer mit den verschränkten Armen.

Auch beim Friseur, der drüben auf dem offenen Feld sein Geschäft betreibt, stehen die Menschen Schlange für einen Haarschnitt für 20 Rupien. Ebenso bei dem Jungen, der Brot bäckt an der Straßenecke, mitten in den Abgasen. Aber auch der Junge mit den Blumen oder die vielen Rikschafahrer - sie alle sind das andere Indien, das eigentliche und informelle Indien. Es rettet das Land in der Krise.

© SZ vom 09.05.2009/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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