In der Globalisierungsfalle:AEG - aus Erfahrung gewarnt

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Wie es zum Überlebenskampf einer Marke kam, über deren Schicksal die Manager des schwedischen Mutterkonzerns Electrolux jetzt entscheiden werden.

Uwe Ritzer

Er will nicht einfach nur so vorbeischauen, er will dabei sein, und zwar mittendrin. Gut, er ist etwas später gekommen, aber als Rentner muss man auch nicht unbedingt schon um sechs Uhr früh hier stehen, wie die Frühschichtler, die an diesem Morgen ihre Arbeit verweigern in der Hoffnung, sie damit zu retten.

Die aufgebrachten Männer und Frauen vor dem Werkstor tragen knallrote Käppis und Plastik-Überziehwesten aus dem Arbeitskampf-Requisitenfundus der IG Metall und blasen ihre Wut in Trillerpfeifen.

Dazwischen wirkt Manfred Lehmeier in seiner blauen Windjacke, mit dem weißen Haar und dem braunen Teint wie ein Zivilist unter lauter Uniformierten. Sein Kommen sei Ehrensache gewesen, sagt er. Man dürfe die Kollegen im Kampf um ihre Arbeitsplätze nicht alleine lassen, nicht nach allem, was war in den vergangenen 83 Jahren im Hausgeräte-Stammwerk der AEG in der Muggenhofer Straße in Nürnberg.

"Man konnte sich in dieser Stadt immer darauf verlassen, dass genügend Arbeit da ist", sagt Lehmeier. AEG, Grundig, Triumph Adler, Hercules, Metrawatt, Trafounion, MAN, ABB-Alstom, Siemens - das industrielle Herz Süddeutschlands schlug jahrzehntelang in Nürnberg und Fürth.

Damals war hier auch das Versandhaus Quelle noch groß und stark. Lauter Jobmaschinen, und Manfred Lehmeier erzählt, manche Arbeiter hätten fast jährlich die Firma gewechselt, "um von Stelle zu Stelle ihren Stundenlohn hochzutreiben". Keiner habe sich vorstellen können, dass dieses Wirtschaftswunder einmal vorbei sein könnte.

Synonym für Qualität

Vermutlich auch Manfred Lehmeier nicht, dieser hochgewachsene Mann von heute 65 Jahren. Er hat Klempner gelernt, ehe er 1959 als Geräteprüfer zur AEG ging.

Später baute er mit Kollegen Prototypen von Waschmaschinen und vertrat ihrer aller Interessen als Betriebsrat, die letzten Jahre bis 1998 sogar als Betriebsratsvorsitzender und Aufsichtsratsmitglied. "Als Arbeiter fühlte man sich bei der AEG gut aufgehoben", sagt Lehmeier. So lange jedenfalls, bis die "Manager auf Durchreise kamen", wie er sie nennt.

Horst Winkler ist tatsächlich nur ein paar Tage in Nürnberg. Der adrette Brillenträger ist aus der Brüsseler Europa-Zentrale der schwedischen AEG-Muttergesellschaft Electrolux gekommen, um mit Betriebsräten und Gewerkschaftern über die Zukunft des Nürnberger Waschmaschinen-, Geschirrspüler- und Wäschetrocknerwerkes mit seinen 1750 Arbeitsplätzen zu verhandeln.

Mit anderen Managern steht Winkler im Morgengrauen vor dem Werk, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, und wartet darauf, live fürs Fernsehen interviewt zu werden. Er ist für die europäischen Werke des weltweit größten Haushaltsgeräteherstellers Electrolux zuständig.

Horst Winkler sagt, es führe kein Weg vorbei an den harten Fakten: Die Preise für elektronische Haushaltsgeräte sind im Sturzflug. Die durchschnittliche Waschmaschine kostet heute 15 Prozent weniger als vor zwei Jahren. "Die Käufer schauen nur auf den Preis", sagt der Manager. Weil viele auf Schnäppchenjagd sind, ließen sich die in Nürnberg produzierten, und verglichen mit Konkurrenzmaschinen aus Fernost oder der Türkei, doppelt so teuren AEG-Geräte nicht mehr profitabel verkaufen.

Am allerwenigsten in Deutschland selbst. Ob es nicht ein Ausweg wäre, AEG gezielt als traditionsreiches Synonym für höchste Qualität und sprichwörtliche deutsche Wertarbeit auf dem Markt zu positionieren? Schließlich leiste sich der Verbraucher doch auch teure deutsche Autos und nicht nur billige asiatische Kleinwagen. "Eine Waschmaschine fährt man aber nicht spazieren, man stellt sie auch nicht in den Flur oder ins Wohnzimmer, sondern einfach nur in den Keller", antwortet Horst Winkler. Dann muss er vor die Fernsehkamera.

So fokussiert sich seit Monaten an der Muggenhofer Straße in Nürnberg wie durch ein Brennglas der große Globalisierungskonflikt. Manuelle Arbeit sei in Deutschland zu teuer geworden, sagen die Experten. Deutsche Wertarbeit werde vom Käufer nicht mehr bezahlt, und Konsumpatriotismus gäbe es hierzulande nicht.

Tatsache ist: In Osteuropa und Fernost werkeln menschliche Hände für viel weniger Lohn. Deswegen lässt auch die Reifenfirma Conti nach mehr als 130 Jahren künftig keine Pneus mehr in Deutschland herstellen, und Infineon schließt mit ähnlichen Argumenten das Werk in München-Perlach.

In Leverkusen liegt Agfa im Sterben, die große, alte deutsche Fotomarke. Man hätte auch den Todeskampf eines von zigtausenden mittelständischen Betrieben beschreiben können, die zu klein sind, als dass ihr Untergang große Schlagzeilen machen würde. Die AEG aber als Symbol deutscher industrieller Macht und Herrlichkeit schlechthin im vergangenen Jahrhundert, sie droht zu verschwinden.

Emil Rathenau gründete 1887 in Berlin die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft. Sie brachte das Land zum Leuchten, denn Rathenau hatte kurz zuvor die vom Amerikaner Thomas Alva Edison erfundene Glühbirne über den Atlantik geholt. Fortan jagte die AEG im übertragenen Sinne einen gigantischen Stromstoß durch Deutschland und startete mit der freigesetzten Energie selbst zum Höhenflug.

AEG baute Flugzeuge und Lichtschalter, Bügeleisen und Turbinen, Lokomotiven und Lampen, Staubsauger und Teekessel, Kraftwerke und mit ihrer Tochter Telefunken auch Sendeanlagen, Rundfunk- und Tonbandgeräte. Aus dem größten nationalen Industriekonzern wurde zu Weltkriegszeiten eine Rüstungsschmiede, weshalb die Produktionsanlagen nach 1945 dann demontiert und enteignet wurden. Die AEG aber war nicht totzukriegen. Schließlich brauchte das zerbombte Land Maschinen für den Wiederaufbau, und die Haushalte brauchten elektrische Geräte.

1950 verließen in Kassel die ersten AEG-Kühlschränke das Werk. In Nürnberg bauten bis zu 6000 Menschen Nachtspeicheröfen, Bügeleisen, Föhne, Bügelmaschinen, Heizkörper und natürlich Waschmaschinen. 1958 lief die erste "Lavamat" vom Band. "Wir fühlten uns gut aufgehoben und waren stolz, AEG-ler zu sein", sagt Manfred Lehmeier.

Befeuert wurde dieser Stolz von Prämien und Zuschlägen und einer großzügigen Betriebsrente. "AEG stand auch für eine Kultur im wirtschaftlichen Leben, die heute verlorengegangen ist", sagt Lehmeier. Die Arbeiter seien als Mitglieder einer zeitweise mehr als 130 000-köpfigen Firmenfamilie nicht nur anerkannt, sondern geschätzt gewesen und galten nicht als lästige Kostenstellen auf zwei Beinen.

Manfred Lehmeier hat inzwischen die Demonstration verlassen und ist von der Muggenhofer Straße abgebogen in ein Gelände, das früher auch zum AEG-Werk gehörte. Hier die Kunststoffspritzerei, dort der Versand, da drüben die Kabelbinderei, das Ersatzteillager, die Heizstabfertigung - der ansonsten in seinen Gesten sparsame Mann deutet hierhin und dorthin.

Was einst AEG-ler in den Hallen erledigten, machen heute Zulieferer. "Die werden preislich gedrückt, bis ihnen das Wasser aus den Augen läuft", sagt Lehmeier. Andere Tätigkeiten hat der Konzern ins Ausland verlagert oder ganz verkauft.

Putzfrauen, Pförtner, die Werksfeuerwehr - was ging, wurde outgesourced. Das Schneidezentrum für rostfreien Stahl - weg. Heute werden die Platten in Nordrhein-Westfalen gewalzt, in Italien zugeschnitten und in Nürnberg in die Geräte eingebaut. Lagerhaltung auf der Straße, zu Lasten der Allgemeinheit.

Als in den frühen neunziger Jahren die Entwicklungsabteilung nach Italien verlagert und der Musterbau ganz geschlossen wurde, habe er zum ersten Mal richtig Angst um den AEG-Standort Nürnberg bekommen, erinnert sich Lehmeier und sagt: "Unser Niedergang setzt sich wie ein Mosaik zusammen."

Vor einem weißgrauen Hochhaus bleibt der frühere Betriebsratschef stehen. Da oben, im siebten Stock, da haben sie immer verhandelt. Er und die anderen Arbeitnehmervertreter mit Managern, die sich tatsächlich noch als Arbeitgeber im Sinne dieses Begriffs verstanden hätten.

Handschlagqualität hätten die Vereinbarungen gehabt, sagt Lehmeier. Betriebsräte hatten es gut in den sechziger und siebziger Jahren. Da konnten sie noch Wohltaten erkämpfen. Heute stehen sie mit dem Rücken zur Wand und sind schon froh, wenn sie die schlimmsten Grausamkeiten abwehren können.

Das Bürogebäude, vor dem Manfred Lehmeier stehen bleibt, beherbergt mittlerweile Abteilungen der GfK AG und ist damit gleichsam ein Symbol für den Strukturwandel Nürnbergs. Die Gesellschaft für Konsumforschung, die täglich die TV-Einschaltquoten ermittelt und monatlich das Konsumklima misst, ist in den vergangenen Jahren zu den weltgrößten Marktforschern aufgestiegen.

Insgesamt gibt es heute in Nürnberg sogar netto 52 000 Arbeitsplätze mehr als vor dem Zusammenbruch weiter Teile der Industrie. Dienstleister wie die GfK wachsen, aber jemanden, der Zeit seines Berufslebens Waschmaschinen montiert hat, kann man nicht so ohne Weiteres vor einen Computer oder in ein Call-Center setzen.

Auch deshalb hat sich die Politik eingesetzt, ist Wolfgang Clement noch zu Zeiten als Bundeswirtschaftsminister im vergangenen Sommer nach Stockholm geflogen, um Electrolux-Konzernchef Hans Straberg persönlich davon zu überzeugen, dieses Nürnberger AEG-Werk nicht zuzusperren. Clement hatte ein Gutachten im Gepäck, welches dem Werk Zukunftschancen gibt, wenn auch zum Preis des Verlustes einiger hundert Arbeitsplätze.

Der Sozialdemokrat hat neben anderem auch auf die Tradition der AEG verwiesen und an die gesellschaftliche Verantwortung appelliert, die auch ihren Shareholdern verpflichtete internationale Konzerne hätten. Man erzählt, das Gespräch sei merkwürdig verlaufen.

Die Manager hätten an Switchboards und mit Flip-Charts über Zahlen und Daten referiert, als säße ihnen kein Wirtschaftsminister gegenüber, sondern ein Betriebswirtschaftsstudent. Manfred Lehmeier sagt dazu: "Den Managern ist Wurst, was Politiker sagen. Bei Grundig gingen die Politiker ein und aus. Das hat nichts genutzt. Am Ende haben sich die Arbeiter an ihre Maschinen gekettet, und man hat sie einfach mit diesen Maschinen weggetragen."

Als Grundig schon tief im Überlebenskampf steckte, kränkelte längst auch die AEG. Wie wild hatten die Manager weltweit Unternehmen zusammengekauft und meist auf Pump finanziert. 1974 begann der Zerfall des unüberschaubar gewordenen Konzerns. Panisch warf man Unternehmenssparten wie die TV- und Rundfunkfirma Telefunken, die Kernkrafttechnologie und die Computertechnik über Bord. Es nutzte nichts. Am 8. August 1982 meldete der Vorstand Vergleich an.

Drei Jahre später übernahm der Daimler-Benz-Konzern 75 Prozent der AEG-Anteile. "Das hat uns kurzfristig gerettet", sagt Manfred Lehmeier. Aber er und die anderen Nürnberger Betriebsräte haben sich dann stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, "was Daimler eigentlich mit Waschmaschinen will?" Die Vision des Daimler-Chefs Edzard Reuter von einem großen Technologiekonzern blieb unerfüllt. 1996 wurde die AEG ganz aufgelöst. Die Hausgeräte-Tochter mit ihren Werken in Herborn, Kassel, Rothenburg ob der Tauber und Nürnberg hatte schon zwei Jahre zuvor Electrolux übernommen.

Der schwedische Sparkurs

Damals stand ein Mann namens Carlhanns Damm an der Spitze dieser AEG-Sparte: ein Manager der alten Garde, auf dessen Wort man sich verlassen konnte. Heute ist er 69 Jahre alt und verfolgt von Koblenz aus den Überlebenskampf des Nürnberger Werks. "Mir geht das an die Nieren", sagt Damm. "Aber was da läuft, ist typisch."

Carlhanns Damm, von 1990 bis 1997 AEG-Hausgerätechef, redet sich in Fahrt. "In den Konzernen haben nicht mehr die Techniker, Marketing- oder Vertriebsleute das Sagen, die sich mit den Produkten auskennen und nahe an den Kunden sind, sondern die Pfennigfuchser, denen es um kurzfristige Zahlen geht und sonst um nichts." Manager, die langfristig dächten, die sich voll und ganz mit einem Unternehmen, dessen Produkten und den Mitarbeitern identifizierten, seien rar geworden.

Nicht nur bei AEG und Electrolux. Deutschland plagt in vielen Branchen ein Markenproblem. Viele Manager wissen mit den eigenwilligen Charakteren ihrer Marken nichts anzufangen. "Sie lassen sich widerstandslos von den großen Handelsketten erpressen und beklagen danach den damit ausgelösten Preisverfall", sagt Damm. Aber die Marke AEG, diese drei Großbuchstaben des deutschen Wirtschaftswunders - kann man die so ohne Weiteres auslöschen? 2002 sperrte Electrolux AEG-Werke in Herborn und Kassel. Im Herdplatten- und Kochmuldenwerk in Rothenburg ob der Tauber und unter den 800 Angestellten der deutschen AEG-Verwaltung herrscht blanke Zukunftsangst. Sind ihre Jobs die nächsten Etappenziele im schwedischen Sparkurs? Im abgelaufenen Quartal sprangen die Electrolux-Gewinne um 22,6 Prozent nach oben. 48 Millionen Euro müssten jährlich in Nürnberg eingespart werden, um hier profitabel zu arbeiten, rechnete Konzernchef Hans Straberg gleichzeitig vor. Die 15 Millionen Euro, welche die Arbeitnehmer anbieten, sind ihm zu wenig.

Das deutsche Electrolux-Management hat sich mit den Nürnberger Beschäftigten auf ein Sanierungsprogramm geeinigt. Die Eckpunkte: Mehrarbeit ohne Lohnausgleich, Abbau von bis zu 700 der 1750 Arbeitsplätze, Investitionen in Technologie und eine Bestandsgarantie für das Werk bis Ende 2010. Das Sagen haben aber nicht die deutschen Manager, sondern die globalen Konzernlenker, die vermutlich am 12. Dezember endgültig den Daumen heben oder senken werden. Die Hoffnungen in Nürnberg halten sich in engen Grenzen.

Die Marke AEG werde man angesichts ihrer Tradition und Strahlkraft unabhängig davon in jedem Fall behalten, heißt es bei Electrolux. Aber wo das Firmenschild mit den drei Großbuchstaben an die Waschmaschinen, Geschirrspüler und Trockner aufgeschraubt wird, ob in Polen oder Nürnberg - das sei doch egal.

© SZ vom 7.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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