Immobilienspekulationen in Athen:Artemis gegen den Gott des Mammon

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In Athen wollen Bürger einen antiken Tempel nahe der Akropolis wieder auferstehen lassen - aber die Bodenspekulanten mauern.

Christiane Schlötzer

Hier ist nichts, nur Schutt und braune Erde, und ein bisschen Gras. Ein öder Ort, eine Lücke zwischen zwei gesichtslosen Apartmentblocks, mitten im Zentrum von Athen. Einfach ein leerer Fleck.

Die Akropolis gilt als eine Wiege unserer Zivilisation. Heute treibt ihre Nähe die Bodenpreise in die Höhe. (Foto: Foto: AP)

Für Josif Efremidis ist dieses Nichts ein Versprechen. Der Mann steht zwischen Gras und Schutt und zeichnet Luftschlösser in den Himmel. "Lufttempel" sollte man sagen, weil das, was das Loch einst füllte, einer Göttin geweiht war. Einer dunkelhaarigen Schönen, einer Jägerin, Artemis Agrotera genannt. "Wir wissen genau, wie der Tempel ausgesehen hat", schwärmt der Architekt Efremidis.

Nur, der Götterhort ist weg, seit 230 Jahren schon. Vielleicht gibt es da, unter der braunen Erde, aber noch ein paar Reste. So genau weiß man das nicht. Efremidis jedenfalls verlangt, dass in der Lücke nur ganz vorsichtig gegraben werden dürfe, am besten mit den Händen. Und dass alles, was man findet, und sei es bloß ein Marmorblock, auf keinen Fall wieder verschüttet oder gar zugebaut wird - mit einer neuen Häuserburg oder einem Touristenhotel. "Wir müssen diesen Ort für die nächsten Generationen sichern", sagt der 48-jährige Grieche.

Den unsichtbaren Tempel retten

Efremidis muss schreien, um sich verständlich zu machen, weil dichter Verkehr auf einer Schnellstrasse an der Lücke vorbeibraust. Aber dies ist das geringste Problem. Denn was der Mann will, ist verwegen: Er möchte einen unsichtbaren Tempel retten, ihn gleichsam unantastbar machen für die Baulöwen, die in der griechischen Metropole auf jede freie Fläche ihre Pranken werfen.

Dies ist ein Unterfangen, das ins Grundsätzliche der griechischen Politik führt. Denn es geht hier beispielsweise darum, wie viel ein weiteres Zeugnis der großen Vergangenheit des Landes wert sein darf, wenn sich das fragliche Stück Athener Boden auch zu einer der teuersten Adressen der Stadt machen ließe - mit phantastischer Sicht auf die Akropolis?

Es ist ein Streit um Interessen: ein ionischer Tempelort gegen private Grundbesitzer; Efremidis und mit ihm eine Initiative von Bürgern aus dem angrenzenden Stadtviertel gegen wankelmütige Minister.

Der Sohn des Ministers

Gekämpft wird mit Gutachten und Prozessen. Die Freunde der ionischen Artemis haben zudem das Internet für sich entdeckt. Dort sammeln sie Unterschriften für eine Petition an das Europäische Parlament. Und sie dokumentieren, dass der "Zentrale Archäologische Rat", das Expertengremium des Kulturministeriums, schon 1964 festgestellt hat, dass der Tempelort wegen der "außerordentlichen Bedeutung" des einstigen Heiligtums nicht bebaut werden dürfe - selbst wenn bewiesen würde, dass keinerlei Überreste aus dem fünften Jahrhundert vor Christus im Untergrund ruhen.

Die Grundstücksbesitzer sollten daher enteignet und entschädigt werden. 1972 bestätigt der Rat dies, 1993 tut er es wieder. Die bis heute verehrte Schauspielerin und Kulturministerin Melina Mercouri setzt im selben Jahr eine Entschädigungssumme fest. Doch kurz darauf stirbt Melina Mercouri, und der Nachfolger wirft die Entscheidung erst mal um - wobei schon bekannt ist, dass 229 der fraglichen 1390 Quadratmeter dem Sohn des damaligen Tourismusministers gehören.

Triumph in Beton

Was folgt, hat Tragödienqualität. Der Grundstückswert explodiert mit den Bodenpreisen in Athen. 1998 beträgt die Entschädigungssumme mit 472 Millionen Drachmen (1,4 Millionen Euro) schon mehr als das Doppelte dessen, was Ministerin Mercouri zahlen wollte. Aber keine Regierung kann sich zur Enteignung durchringen - bis heute.

Im nacholympischen Athen sind die Preise derweil weiter nach oben geschossen. Gebaut werden darf aber auch nicht, solange das Votum des Archäologenrats gilt. Den Grundbesitzern ist nun der Geduldsfaden gerissen. Sie wollen ihr Baurecht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erstreiten.

Die Lage des leeren Flecks ist in der Tat phantastisch, der Blick auf die Akropolis so frei wie nur an wenigen Stellen der Stadt, und der Zeus-Tempel, das berühmte Olympion, liegt gleich auf der anderen Seite der Straße. "Genau deshalb darf man hier nicht bauen", sagt Architekt Efremidis. "Die Akropolis und der Artemis-Tempel, das war einst eine Art städtebauliches Ensemble, in der Wiege Athens."

In der Wiege Athens

Man braucht ein wenig Phantasie, um diese Wiege noch zu erkennen. Denn Athens Kinderbett war einst umschlungen von zwei Flüssen. Einen gibt es noch, den Kiffisos im Westen, verschmutzt und vernachlässigt ist er. Der andere, der Illisos, floss genau an dem zerstörten Tempel vorbei, dort, wo jetzt der Verkehr braust. Der Fluss verschwand mit dem Bau der Schnellstraße Anfang der sechziger Jahre in einer Röhre unter der Erde.

Die Straßenbauer mussten um den Artemishügel aber eine große Kurve machen, weil es die Archäologen so wollten. Und dieses gekrümmte Band aus Beton ist für Efremidis ein Triumph: "So wichtig nahm man da noch den Tempel." Und den leeren Fleck.

Dass man so genau weiß, was in der Lücke stand, ist zwei britischen Architekten zu verdanken. James Stewart und Nicholas Revett zeichneten von 1751 bis 1753 im Auftrag des britischen Königs alle antiken Monumente Athens, mit höchster Präzision.

Verweis auf Dresdner Frauenkirche

Diese Zeichnungen sind der größte Schatz von Goulielmos Orestidis. Der 29-Jährige hat seine Doktorarbeit über den Tempel verfasst. Am liebsten würde er ihn wieder auferstehen lassen. "Man könnte sogar denselben Marmor verwenden", schwärmt Orestidis. Er sagt, "das ist wie bei einem Auto, wenn man Konstruktionszeichnungen hat, kann man es bauen."

Der junge Grieche verweist in seiner Arbeit auf die Dresdner Frauenkirche. "Die wurde doch auch komplett neu errichtet." Mit den Weltraumbildern von Google Earth hat er den Tempel schon in das heutige Athen hineinkopiert. Schön sieht das aus.

In Athen wurde schon öfter Altes neu gebaut, das antike Olympiastadion zum Beispiel, im 19. Jahrhundert. "Die hatten gerade mal noch drei, vier Steine", sagt Orestidis. So viele gibt es auch vom Artemis-Tempel. Museen in Athen, Berlin und Wien besitzen Reliefstücke.

Das alte Stadion liegt nur ein paar hundert Meter von dem leeren Tempelplatz entfernt. Es war zuletzt Kulisse für die Sommerspiele 2004 und ist eine Touristenattraktion. Architekt Efremidis möchte, dass die Touristenbusse auch vor der hässlichen Baulücke an der Athener Ardittou-Straße halten, und dass die Leute fragen: Wo ist er denn nun, der Tempel? So berühmt möchte er das Nichts machen.

Wo ist der Tempel?

Eine Hinweistafel gibt es schon, von einem Verkehrsschild halb verdeckt und mit Werbestickern beklebt. "Site of the Temple of Artemis Agrotera" steht darauf. Lesen kann man es kaum.

Manolis Korres ist einer der prominentesten Bauhistoriker des Landes. Er hat an der Restauration des Parthenon gearbeitet. Seinem Schüler Orestidis hat er die Bestnote gegeben. Der Professor klingt betrübt, wenn er sagt, "in Griechenland wird nur geschätzt, was steht, aber nicht, was liegt".

Es gibt ein griechisches Sprichwort dazu: Wenn die Eiche fällt, kann sich jeder ein Stück Holz schneiden. Das heute so teure Tempelgrundstück sei einst "für ein Stück Brot verkauft worden", klagt Korres. Ein pompöser Wohnblock gleich nebenan wurde vor 40 Jahren zur Zeit der Diktatur gebaut. Despina Papadopoulos, Gattin des Anführers der Obristen, ließ das Gebäude damals errichten - und dafür Teile des Tempelfundaments abreißen, erzählt Korres.

Keine neuen Sünden auf die alten

Immer war dieses Fleckchen Erde eng mit der Geschichte des Landes verbunden. Aus dem Tempel war längst eine christliche Basilika geworden, als der türkische Statthalter Ali Haseki den Bau 1778 schleifen ließ und die Steine für die Befestigung Athens verwendete.

Auf alte Sünden sollte man keine neuen setzen, sagt Efremidis. Wenn man den Tempel nicht wieder erbauen wolle, dann sollte man den Platz wenigstens leer lassen, in einen kleinen Park verwandeln, als öffentlichen Ort im Gedächtnis der Stadt.

Jetzt aber wird erst einmal gegraben, weil es die Regierung so will. Und die Tempelfreunde fürchten, es werde nur gebuddelt, um nichts zu finden. Damit dann gebaut werden kann. Ein paar Gräber hat man allerdings schon entdeckt. "Vielleicht wollen sie ja ein Hotel mit frühchristlichen Gräbern in der Lobby bauen?" spottet Efremidis. Dann schon lieber nichts. Mut zur Lücke sozusagen.

© SZ vom 05.06.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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