Es ist die übliche bunte Mischung, die wie jeden Samstagmorgen auf dem Gehsteig vor der First Unitarian Church mitten in Los Angeles zusammengekommen ist: Alte und Junge, Männer und Frauen, ein paar Kinder dazwischen, alle ärmlich gekleidet, aber keine Penner. Die meisten sind ausländischer Abstammung, noch mehr aber eint sie: Hunger. Sie stehen an für kostenlose Lebensmittel, die hier immer zwischen acht und zehn Uhr ausgegeben werden. Geredet wird kaum - es ist schon peinlich genug, dass man das hier nötig hat. Der ältere Mann in der Mitte der Schlange aus etwa 15 Personen macht einen seltsamen Eindruck. Den Oberkörper vornübergebeugt, wippt er ständig vor und zurück. Dann geht es auf einmal schnell: Er kippt um, liegt auf dem Rücken, zuckt mit Armen und Beinen.
Und die Umstehenden? Haben ein paar Vermutungen. "Das Herz. Oder ein Schlaganfall." - "Gebt ihm Orangensaft", sagt eine andere, "der ist im Zuckerkoma." Weiter vorne in der Schlange ist man mehr daran interessiert, sich eine gute Ausgangsposition zu verschaffen. "Gehen Sie ans Ende der Schlange", ruft die Kirchen-Mitarbeiterin immer wieder zu einer Frau, die sich nach vorne gemogelt hat, als alle auf den kollabierten Mann geblickt haben. Aber kümmert sich denn wirklich keiner um den armen Kerl am Boden? Man kann ihn doch nicht einfach so da liegen lassen! Also geht man die paar Schritte zu ihm hin, beugt sich hinunter, will ihn berühren - und greift mit der Hand durch ihn hindurch, als wäre er ein Geist.
Das ist der Moment, in dem einem zwei Dinge wieder bewusst werden: Was man beim Herumgehen auf dem Bürgersteig gesehen hat, ist, erstens, bloß eine - ziemlich perfekt gemachte - Simulation eines Geschehens, das sich genau so ereignet hat. Und das ist, zweitens, einfach unglaublich.
Ein Gerät wie eine Taucherbrille
Aber Moment mal, wie kann man auf einem Gehsteig in der Innenstadt von L.A. herumlaufen und doch nicht dort sein? Die Antwort steckt in dem Gerödel, das man umgeschnallt bekommt, hier in dem großen verdunkelten Raum im Institut für interaktive Medien an der University of Southern California. Ein Gerät, geformt wie eine Taucherbrille, gehört dazu, von ihm gehen mehrere Stangen ab, ähnlich einem Hirschgeweih. Leuchtende Kugeln an den Enden werden von Kameras erfasst. Ein Computer berechnet mit ihrer Hilfe in Echtzeit die genaue Position in einem virtuellen Raum. Geschaffen hat diesen Raum ein Team um die Journalistin Nonny de la Peña. In der Brille kann man ihn nicht nur dreidimensional sehen, man kann in dem Raum auch herumlaufen, sich unter die 3-D-Abbilder der Menschen in der Warteschlange mischen. Zudem wird über Kopfhörer der Original-Ton der Szene eingespielt, der an Ort und Stelle aufgenommen wurde.
Immersive Journalism, so nennt de la Peña, was sie mit ihrem Team macht, Journalismus zum Eintauchen. "Wir wollten eigentlich nur die Gespräche der Menschen aufnehmen", erzählt sie, "es sollte eine Dokumentation über das Problem hungernder Menschen werden." Eine Praktikantin ging also zu solchen Essensausgaben und ließ ihr digitales Aufnahmegeräte laufen. Doch dann kippte der Mann vor der First Unitarian Church um, und de la Peña hatte ihre Geschichte, weit eindringlicher als sie es sich erhofft hatte. Wer es weiter erträgt, kann sich noch ansehen, wie eine Frau sich immerhin erbarmt und mit ihrem Handy Hilfe ruft. Irgendwann kommen dann auch zwei Sanitäter. Aber auch die setzen nicht etwa eine Infusionsnadel, verabreichen Saft und tun sonst irgendwas. Sie stehen nur herum. Schließlich bricht die Szene ab, und man ist wieder zurück in der eigenen Realität.
Schon seit Längerem gibt es Versuche, wahre Geschichten erlebbar zu machen, die Menschen zu Zeugen zu machen, manchmal auch zu handelnden Personen. Sogenannte serious games - ernste Spiele - versetzen einen zum Beispiel in die Rolle einer Frau im ländlichen Indien oder in die eines Dorfbewohners in der Krisenregion Darfur. Aber auch wer sich als Spieler mit den Figuren auf dem Bildschirm identifiziert - es bleibt doch immer eine Distanz. Denn man sitzt vor dem Monitor und steuert die Figur mit der Maus.
So etwas wie die virtuelle Welt von Nonny de la Peña hat es dagegen bisher noch nicht gegeben. Sie ist emotional viel berührender, weil mehr Sinne beteiligt und Ablenkungen von außen nahezu ausgeschaltet sind. Vor allem, dass man frei umherlaufen kann, dass jede Bewegung des eigenen Körpers verzögerungsfrei auf die künstliche Umgebung übertragen wird, lässt einen tatsächlich eintauchen in die Geschichte. Man übersieht beinahe, dass sowohl die nachgebildete Umgebung wie auch die Avatare der Menschen vor der Kirche ziemlich stark vergröbert dargestellt sind - mehr war wegen der begrenzten finanziellen Möglichkeiten nicht drin. Je realistischer eine solche Szene dargestellt werden soll, desto mehr Rechenkraft ist vonnöten. Dennoch ist die Illusion noch so perfekt, dass immer ein Mitarbeiter des Teams mitgehen und aufpassen muss, dass man nicht an eine Wand des realen Gebäudes stößt.
Nonny de la Peña, die an der Annenberg School for Communications and Journalism der University of Southern California zurzeit ihre Doktorarbeit macht, ist keine Anfängerin. Dokumentarfilme hat sie gedreht und Artikel im Time Magazine, in der New York Times und anderen renommierten Blättern veröffentlicht. Der Erfolg von "Hunger in L.A." hat sie selbst überrascht. Sie erwartete zwar, dass die Menschen beeindruckt sein würden. Schließlich hatte sie bei einem Vorgängerprojekt - einer dem Gefangenenlager Guantanamo nachempfundenen Verhörszene - schon erlebt, wie sich die Teilnehmer mit ihrem Avatar identifizierten, obwohl sie den bloß auf dem Bildschirm sahen. Aber nach dem virtuellen Rundgang vor der Kirche waren die meisten Leute richtig geplättet, überwältigt von dieser Szene: "Viele haben geweint", erzählt die Journalistin. Der emotionale Schock ist durchaus beabsichtigt: "Immersive Journalism will nicht bloß die Fakten präsentieren, sondern die Möglichkeit bieten, sie selber zu erfahren." De la Peña glaubt, dass die Grenzen zwischen Dokumentation und Animation mehr und mehr verschwimmen werden. Sie bildet zwar die Wirklichkeit nur nach, aber auch scheinbar objektive Bilder seien schließlich oft gefälscht.
Werden wir - oder vielmehr unsere digitalen Abbilder - also schon bald mit Lola um die Wette rennen, werden wir wie im 3-D-Film "Avatar" die Kultur fremder Zivilisationen aus der Nähe beobachten oder wie der Zauberlehrling Harry Potter längst vergangene Ereignisse erleben, als wären wir wirklich dabei? Einige technische Entwicklungen weisen tatsächlich in diese Richtung. Verschiedene Hersteller, darunter auch Zeiss, arbeiten an Virtual-Reality-Headsets, die es möglich machen, in künstlich geschaffene 3-D-Welten abzutauchen. Auch mit holografischen Projektionen lässt sich ein ähnlicher Effekt erzielen. Noch allerdings ist der Aufwand hoch, solche Welten zu schaffen.
Eineinhalb Jahre Entwicklungszeit für fünf Minuten
Eineinhalb Jahre Entwicklungszeit hat die Journalistin für das nur ein paar Minuten lange Projekt "Hunger in L.A." gebraucht, auch weil sie sich selbst beibringen musste, 3-D-Figuren mit Software zu programmieren, die man für Computerspiele verwendet. Sie hat eigenes Geld investiert, hat bei Firmen gebettelt. Nun, nach dem Erfolg von "Hunger in L.A.", ist es leichter für sie geworden, an Geld für neue Projekte zu kommen. Unter anderem gehört sie zu den Stipendiaten des AP-Google-Scholarship und hat dadurch bessere Möglichkeiten.
Auch das dafür geplante Projekt beleuchtet wieder ein brennendes inneramerikanisches Problem: Es geht um das Schicksal des 35 Jahre alten Mexikaners Anastasio Hernandez-Rojas, der im Juni 2010 von Beamten der US-Grenzpolizei so lange geprügelt und mit Elektroschocks traktiert worden war, bis er starb. Hernandez-Rojas war schon als Teenager illegal eingewandert, hatte 20 Jahre in San Diego gelebt. Nachdem er seine Mutter besucht hatte und wieder illegal über die Grenze schlüpfen wollte, erwischten ihn die Grenzer. Zeugen hatten das Geschehen damals mit Handys aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Das erlaubt es Nonny de la Peña, die Szene realistisch nachzustellen. Es wird, das kann man schon jetzt sagen, nur schwer zu ertragen sein.