Hartz-IV-Entscheidung:Richter Borchert und der "Sozialstaatskrimi"

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Seit mehr als zwanzig Jahren streitet er für eine Reform der Sozial- und Familienpolitik: Richter Jürgen Borchert. Am Dienstag könnte er triumphieren.

F. Augstein

Der heutige Dienstag könnte womöglich einer der schönsten Tage im Leben des Richters Jürgen Borchert werden. Der 6. Senat des hessischen Landessozialgerichts, dem Borchert vorsitzt, hat beim Bundesverfassungsgericht eine der zwei Vorlagen eingereicht, in denen die Hartz-IV-Gesetzgebung moniert wird.

Die Familienpolitik betrachtet Jürgen Borchert als den Hebel, mit dem mehr Verteilungsgerechtigkeit durchgesetzt werden kann, weil "wir das Problem da über die verfassungsrechtliche Schiene zu packen kriegen". (Foto: Foto: AP)

Heute wird darüber in Karlsruhe entschieden. Nach den sehr kritischen Fragen, die bei der mündlichen Verhandlung gestellt wurden, ist es wahrscheinlich, dass das höchste Gericht sich heute einigen Argumenten der Gesetzesgegner anschließt und Hartz IV für revisionsbedürftig erklärt. Das wäre ein Triumph für Jürgen Borchert, der seit mehr als zwanzig Jahren für eine Reform der Sozial- und Familienpolitik streitet.

Kampf um Gerechtigkeit

In erster Linie geht es dem Juristen Borchert, der seit 1986 am Landessozialgericht in Darmstadt tätig ist, um Gerechtigkeit. Für ein Unding hält er es, dass Sozialbeiträge und Verbrauchssteuern vor allem Arbeitnehmerfamilien übermäßig schwer belasten. 70 Prozent aller Steuern würden auf diese Weise so verteilt, dass die "stärksten Schultern" vergleichsweise wenig tragen müssten.

Familien seien von vornherein besonders benachteiligt. Borcherts Wort für diesen Umstand ist "Sozialstaatskrimi".

Die Familienpolitik betrachtet er als den Hebel, mit dem mehr Verteilungsgerechtigkeit durchgesetzt werden könne, weil "wir das Problem da über die verfassungsrechtliche Schiene zu packen kriegen". Es könnte sein, dass er da recht behält.

Borchert kam 1949 in Gießen zur Welt, sein Vater war Agrarökonom, seine Mutter Pharmazeutin. Seine Studienjahre in Berlin, wo er in einer großen WG lebte, die Staatesexamina absolvierte, promovierte, zwei Kinder bekam und ein fröhliches Familienleben führte, beschreibt er mit dem Enthusiasmus eines Mannes, der damals das Glück erlebte, seine Verantwortung in Freiheit zu genießen.

Leistung der Mütter übergangen

Damit die beiden Kinder der berufstätigen Eltern gut aufgehoben wären, haben die Borcherts zusammen mit anderen seinerzeit in Berlin eine private Krippe gegründet. Borchert fordert nicht den geschmähten Versorgungsstaat, er fordert eine gerechte Sozialgesetzgebung. Die Familienpolitik hat er schon in seiner Promotion behandelt. Seither vertritt er den Standpunkt, dass Konrad Adenauers Rentenreform 1957 einen Pferdefuß gehabt habe: Sie überging die Leistung der Mütter.

Als Roland Koch 2001 bundespolitische Ambitionen hatte, machte er Borchert zu seinem Ratgeber. Er wollte sich da wohl ein soziales Mäntelchen schneidern lassen. An Borcherts Vorschlägen war Koch dann aber nicht recht interessiert. Heute findet Borchert bei Angehörigen aller Fraktionen Gehör. Gegner, sagt er, habe er unter jenen, die seine juristische Argumentation mit einer moralischen verwechseln.

Seine Kinder sind mittlerweile erwachsen - wirtschaftlich-sozial betrachtet, erklärt Borchert, sei er "kinderlos", diese Sichtweise falle manchen schwer. Wenn Karlsruhe nun Teile seiner Argumentation aufgriffe, dann würde sein langjähriges Engagement belohnt: dann müsste der Bundestag über Verteilungsgerechtigkeit debattieren; die Ungerechtigkeiten, die Borchert anprangert, müssten öffentlich erörtert werden.

© SZ vom 09.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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