München/Stuttgart (dpa/tmn) - Ananasfasern für die Sitze, Kapok-Nüsse im Stoff und Fußmatten mit alten Fischernetzen: Autohersteller kommen auf immer neue Ideen, um die Produktion von Autos nicht nur unter wirtschaftlichen, sondern auch unter Aspekten des Umweltschutzes nachhaltiger zu machen. Doch mit dem ökologischen Bewusstsein, das auch die Kfz-Branche für sich entdeckt hat, werden die Dinge nicht immer einfacher.
Nicht nur ist es eine Herausforderung, mit zum Beispiel recycelten Materialien gewohnte Qualitätsstandards zu halten - was die Produktion aufwendiger macht. Auch die neuen Öko-Stoffe zu gewinnen, ist komplex. Beispiel Fischernetze.
Bis diese in Fußmatten verarbeitet im Auto liegen, durchlaufen sie einen langen Prozess. Derk Remmers, Berufstaucher, geht mit Gleichgesinnten mehrmals im Jahr für die Non-Profit-Organisation Ghost Diving ehrenamtlich auf die Suche nach Geisternetzen - verloren gegangenen, herumtreibenden, irgendwo verhedderten Fischernetzen. „Ich will aktiv etwas gegen die Meeresverschmutzung tun. Außerdem gefällt mir der Ansatz der Weiterverarbeitung.“
640.000 Tonnen Fischernetze landen jährlich im Meer
Nach Angaben von Healthy Seas, einer anderen Non-Profit-Organisation, die die Meere von Müll befreien will, landen jährlich schätzungsweise 640.000 Tonnen Fischernetze im Meer, wo sie für Tiere zur tödlichen Gefahr werden können. „Natürlich machen die alten Netze nur einen geringen Teil aus, aber jeder gerettete Fisch zählt, das rechtfertigt den hohen Aufwand“, sagt Healthy Seas-Projektmanagerin Christina Wiegers.
Nach den Tauchgängen werden die Netze an Land gereinigt, getrocknet und schließlich geschreddert. Das Granulat geht dann an Aquafil, ein Unternehmen, das sich auf die Verarbeitung von sogenannten Recyklaten spezialisiert hat.
Zu den Rohstoffen zählen Netze ebenso wie Teppichreste oder Verschnitte der Modeindustrie. Am Ende der Produktionskette entsteht das neue, regenerierte Nylon Econyl, das auf großen Rollen an Zulieferer geht - und später zu Fußmatten für den Hyundai Ioniq 5 und Autos anderer Marken verarbeitet wird.
Die Vorteile von „Recyclaten“ im Fahrzeugbau
Die CO2-Emissionen bei Aquafil fallen um rund 80 Prozent geringer aus als bei der herkömmlichen Produktion von Nylon auf Erdölbasis. Die Autohersteller und deren Zulieferer nehmen das spezielle Nylongarn gerne ab.
Roberto Rossetti, bei BMW verantwortlich unter anderem für die CO2-Kalkulation und Sekundärrohstoffquote, sieht mehrere Vorteile von nachhaltigen Werkstoffen und Recyclaten im Fahrzeugbau. Neben der CO2-Einsparung zählten dazu Festigkeit, Gewichtsreduzierung und Nachhaltigkeit. „Um einen möglichst hohen Anteil von Sekundärwerkstoffen zu verwenden, ist es wichtig, sie bei der Entwicklung des Fahrzeugs frühzeitig zu integrieren“, sagt Rossetti.
Derzeit setzt BMW pro Fahrzeug eigenen Angaben zufolge etwa 30 Prozent recycelte Materialien ein, das Ziel sind 50 Prozent. Mit Sekundärmaterialien will BMW den CO2-Footprint seiner Fahrzeuge weiter reduzieren - um 75 bis über 80 Prozent bei Aluminium, um 50 bis 80 Prozent bei Stahl und um 50 bis 80 Prozent bei Thermoplasten.
Kaktusfasern für den Lederersatz
Thermoplast aus 100 Prozent recyceltem Material wird heute schon dort eingesetzt, wo es der Kunde nicht sieht, wie in der Unterstruktur der Türverkleidung oder Kabelschächten. Beim i3 integrierte BMW ab 2013 Flachsfasern für die Türverkleidungen und Teile der Mittelkonsole. Der neue BMW iX erhält nach dem Umweltstandard FSC zertifiziertes Holz und natürliche Wollfaser.
Für die Behandlung des Leders verwendet der Münchner Autobauer ein Extrakt aus Olivenbaumblättern, die beim jährlichen Rückschnitt anfallen. Wie bei Hyundai werden für die Bodenverkleidung und die Fußmatten Kunststoffgarne aus recycelten Fischernetzen verarbeitet.
Mit Partnern wie BASF oder Interzero erforscht und entwickelt BMW neue Recyclingmöglichkeiten, aber auch neue Materialien - zum Beispiel Pyrolyseöl aus organischen Stoffen als Basis für neue Kunststoffprodukte. Das Material Deserttex basiert auf Kaktusfasern und Polyurethan-Kunststoff und könnte künftig als Lederersatz dienen.
Geschredderte T-Shirts und PET-Flaschen
„Natürliche Materialien sind interessant, weil sie in der Wachstumsphase CO2 aufnehmen und Sauerstoff emittieren. Nachwachsende Rohstoffe können dabei außerdem das Gewicht um 30 Prozent gegenüber herkömmlichen Materialien reduzieren“, sagt BMW-Mann Rossetti.
Auch bei Volkswagen werden neben CO2-ärmerem Stahl neue Materialien verwendet, darunter Flachs, Hanf, Kenaf, Zellulose, Baumwolle und Hölzer. Bei ID.Buzz und ID.Buzz Cargo kommen statt Leder Polyurethan-Recyclate zum Zuge. Für die Sitzoberflächen und Türverkleidungen verwendet VW einen Mix aus recycelten PET-Flaschen und geschredderten T-Shirts. Mazda setzt indes beim MX-30 im Innenraum Kork ein.
Der Zulieferer Faurecia zeigte vergangenes Jahr auf der IAA in München ein Cockpit aus Hanffasern, einem speziellen Biofaser-Verbundwerkstoff und fossilfreiem Stahl, bei dessen Produktion keine CO2-Emissionen mehr anfallen. BMW präsentierte auf der gleichen Messe eine Studie, die zu 100 Prozent recycelbar ist, behauptet der Hersteller.
Herausforderungen bei Qualitätsstandards
Mercedes will innerhalb der nächsten zehn Jahre den Anteil von Recyclaten in den Fahrzeugen auf durchschnittlich 40 Prozent erhöhen. Beim EQS und EQE kommen bereits Kabelkanäle aus recycelten Haushaltsabfällen zum Einsatz.
Im Innenraum bietet Mercedes unter anderem Polsterstoffe aus recycelten PET-Flaschen. Teppiche bestehen wie bei Hyundai, BMW und VW aus recycelbaren Materialien wie alten Teppichen und Fischernetzen. Für die Lederalternative der Studie Vision EQXX verwendete Mercedes pulverisierte Kaktusfaser und Pilzmyzel, die unterirdische wurzelartige Struktur von Pilzen.
Markus Schäfer, Vorstand für Entwicklung und Einkauf von Mercedes-Benz, betont die Herausforderung, die die neuen Öko-Verfahren mit sich bringen. „Der Fahrzeuginnenraum ist ein wichtiger Bestandteil des Markenerlebnisses.“ Die Materialien müssten unter anderem Temperaturunterschieden von rund 100 Grad standhalten, ohne instabil zu werden, Gerüche abzusondern oder sich zu verfärben.
Nachhaltig - aber auch schön?
Je nach Bauteil sei das Recycling aber aufwendig und teuer, außerdem seien die Sekundärstoffe nicht immer verfügbar. Ein weiteres Problem: Nicht alle Werkstoffe, die nachhaltig sind, empfinden Insassen auch als schön.
Alle Bauteile müssen bei Qualität, Sicherheit und Zuverlässigkeit den gleichen hohen Anforderungen entsprechen, ganz gleich, ob aus Primär- oder Sekundärquelle. „Anmutung, Haptik und Optik müssen immer stimmen“, sagt auch Roberto Rossetti von BMW. Nur dann würden sie von den Kunden auch akzeptiert.
Langfristig führt der Weg zur Nachhaltigkeit vor allem über die Kreislaufwirtschaft, in der Abfälle reduziert werden und das Wiederverwerten und groß geschrieben wird. Je weniger Mischmaterial sich im Fahrzeug befinden, desto leichter lassen sich Materialien mehrfach wiederverwenden. Aus VW-Sicht der nachhaltigste Weg, ein Automobil zu produzieren.
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