Gutachten zur Schmiergeldaffäre:Ex-Siemens-Vorstand soll versagt haben

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Ein vertrauliches Gutachten enthält schwere Vorwürfe: Der frühere Siemens-Vorstand habe bei der Korruptionsbekämpfung versagt und soll nun Schadenersatz zahlen.

Klaus Ott

Akribisch haben Wirtschaftsanwälte der Düsseldorfer Kanzlei Hengeler Müller monatelang die Erkenntnisse aus den internen Ermittlungen bei Siemens in der Korruptionsaffäre ausgewertet und in einem Gutachten zusammengefasst. Ende Juli präsentierte die Kanzlei dem Aufsichtsrat des Industriekonzerns, der die Expertise in Auftrag gegeben hatte, die Resultate.

Der frühere Siemens-Vorstandschef Heinrich von Pierer (Foto: Foto: dpa)

Das Kontrollgremium beschloss daraufhin, von allen früheren Zentralvorständen der Jahre 2003 bis 2006 Schadenersatz zu verlangen. Die einstigen Top-Manager einschließlich des langjährigen Konzernchefs Heinrich von Pierer hätten ihre Amtspflichten verletzt und so das System der schwarzen Kassen Kassen und Schmiergeldzahlungen ermöglicht, lautete der Vorwurf. Details nannte Siemens nicht. Das Gutachten ist als "streng vertraulich" gekennzeichnet, nichts davon sollte an die Öffentlichkeit dringen.

Jetzt erhielt die Süddeutsche Zeitung Einblick in den geheimen Untersuchungsbericht. Er enthält eine Fülle von Vorwürfen gegen den früheren Zentralvorstand, der den innersten Zirkel der Macht im Großkonzern bildete. Elf ehemalige Top-Manager sollen versagt haben und deshalb für die Schäden aufkommen, die durch den Korruptionsskandal und die Affäre um die Betriebsräte-Organisation AUB entstanden seien.

Pierer und Kleinfeld widersprechen

Am Ende dürften die Gerichte das letzte Wort haben. Ex-Konzernchef Pierer weist die Vorwürfe zurück. Pierer hat bereits erklärt, er werde sich gegen die Anschuldigungen wehren. Auch sein Nachfolger als Vorstandsvorsitzender, Klaus Kleinfeld, der ebenfalls zahlen soll, weist die Angriffe zurück. Kleinfeld hat geäußert, ihn treffe keine Schuld und er vertraue auf die Justiz.

Das Gutachten von Hengeler Müller enthält sowohl schwere Vorwürfe gegen den Ex-Zentralvorstand als solchen wie auch gegen einzelne frühere Top-Manager. Einer der Kernpunkte: Die Abteilung Compliance, die Gesetzesverstöße verhindern und für ein sauberes Unternehmen sorgen sollte, sei wirkungslos gewesen. Das habe am Vorstand gelegen.

Die Compliance-Abteilung habe erhebliche strukturelle Mängel aufgewiesen, steht in dem Gutachten. Das Kontroll-, Berichts- und Informationswesen sei "lückenhaft" gewesen. Ende 2003 habe der damalige Konzernjustitiar Albrecht Schäfer zahlreiche Vorschläge unterbreitet, wie sich die Compliance-Arbeit verbessern lasse. Der Compliance-Chef, so Schäfers Idee, solle diese Aufgabe nicht im Nebenjob wahrnehmen, wie das damals der Fall gewesen sei. Sondern sich einzig und allein darum kümmern, bei Siemens dafür zu sorgen, dass "Straftaten im Unternehmen verhindert werden", oder schon begangene Gesetzesverstöße aufgedeckt würden. Compliance solle aufgewertet werden, künftig eine "eigene Zentralstelle" bilden, und gegenüber den Revisionen der Unternehmensbereiche weisungsbefugt sein.

Vertrauen besser als Kontrolle

Schäfer, der von Oktober 2004 bis Dezember 2006 dann selbst Compliance-Chef war, hat als Zeuge beim ersten Prozess in der Schmiergeldaffäre vor dem Landgericht München die frühere Konzernspitze schwer belastet. Auch gegenüber den Anwälten, die im Auftrag des Aufsichtsrats bei Siemens intern ermitteln, sagte Schäfer aus. Er berichtete, seine Idee von Ende 2003, alle Compliance-Funktionen in einer Zentralstelle zusammenzufassen, sei von einem Vorstandsmitglied verworfen worden. Schäfer nannte auch den Namen des Ex-Vorstands.

Eine solche Maßnahme sei nicht nötig, habe dieser Vorstand gesagt. Compliance solle "diskret" arbeiten, man müsse "Unruhe im Unternehmen" vermeiden. Vertrauen sei besser als Kontrolle, habe der damalige Vorstand hinzugefügt, berichtete Schäfer als Zeuge den intern bei Siemens eingesetzten Ermittlern.

Vergleich mit General Electric

Mitte 2005 soll, so steht es bei Hengeler Müller, die damalige Konzernspitze intern einen Vergleich zwischen Siemens und dem direkten Konkurrenten, dem US-Konzern General Electric (GE), in Auftrag gegeben haben. Das Ergebnis sei ernüchternd ausgefallen. Bei GE gebe es eine große Anzahl von "Ombudsleuten", an die sich Mitarbeiter oder Geschäftspartner vertraulich mit Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten wenden könnten. Solche Ombudsleute sind ein wesentliches Element der Korruptionsbekämpfung. Siemens setzte erst nach Beginn der Korruptionsaffäre einen Ombudsmann ein, einen Anwalt aus der früheren Kanzlei des bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein.

Der Vergleich mit GE von Mitte 2005 sei auch sonst für Siemens negativ ausgefallen, heißt es in dem Gutachten von Hengeler Müller. Ergebnisse des Vergleichs: Bei GE sei jeder Mitarbeiter verpflichtet, jeden Verstoß gegen Verhaltensrichtlinien zu melden. Bei Siemens bestehe diese Pflicht nur bei Verstößen gegen den Ethikkodex für Finanzangelegenheiten. Die Konzernspitze, so Hengeler Müller, habe von die Resultate des Vergleichs erfahren, es aber unterlassen, daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.

Aus all dem und vielen weiteren Erkenntnissen zieht Hengeler Müller eine eindeutige Schlussfolgerung: Der Aufsichtsrat von Siemens müsse vom früheren Vorstand Schadenersatz verlangen. Das ist inzwischen geschehen, woraufhin Pierer und Kleinfeld den Vorwürfen prompt widersprochen haben. Es könnten Gerichtsverfahren folgen, die einmalig wären in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte. Dass der gesamte Ex-Vorstand eines Großkonzerns verklagt wurde, hat es bislang noch nicht gegeben.

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