Gründerszene in London:Sie bleiben in der bunten Blase

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Das war zumindest ein Hingucker: Nach dem Brexit-Votum warb die Berliner FDP sogleich recht unverhohlen um Start-ups aus London. (Foto: dpa)

Seitdem die Briten für den EU-Austritt votiert haben, träumt man in vielen europäischen Städten davon, dass Londoner Start-ups zu ihnen kommen. Doch viele Unternehmer haben gute Gründe, an der Themse zu bleiben.

Von Lea Hampel, London

So mancher Wirtschaftsbeauftragte war ins Träumen geraten: Hippe Gründer würden vor den Unzumutbarkeiten des Brexit fliehen, das neue Asos oder Shazam aus Frankfurt oder Paris stammen. Die Berliner FDP gar ließ ein Auto durch London fahren, auf dem sie für Berlin warb. Man könnte von Aasgeiern sprechen, doch wo sie sind, muss Aas sein, und das ist in London nicht der Fall. Im Gegenteil. Hier herrscht unter Gründern derzeit eine Stimmung, die sich mit "jetzt erst recht" überschreiben ließe.

In der Ropemaker Street in London, zwischen dem Barbican Theater und dem Bahnhof Liverpool Street, ist die Drehtür der Nummer 20 eine der wenigen, durch die mehr Turn- als Lederschuhe gehen. Die Räume erinnern an Wohngemeinschaften. In der Küche macht sich am Mittag jemand Müsli, es gibt einen Tischkicker, bunte Möbel und noch buntere Socken. Und vor allem: gute Stimmung trotz Brexit. Patrick Stobbs, 28 Jahre, ist mit beidem ausgestattet, Socken in rot und blassblau und guter Laune. Der Gründer der jungen Firma Jukedeck hat hier Räume des Anbieters Techhub gemietet. Wenn von einem Standortwechsel die Rede ist, lacht er ein britisches Lachen - höflich, aber skeptisch.

Jukedeck, ein Programm, mit dem Nutzer lizenzfreie Musik erstellen lassen können und in das Investoren mehr als zwei Millionen Pfund gesteckt haben, bleibt in London, und dafür hat Stobbs gute Gründe. Denn kaum hat sich der erste Schock gelegt, kaum waren die ersten Prognosen über eine mögliche Rezession verdaut, entwickelten er und andere Gründer etwas, das er, sehr britisch, als "high degree of optimism" bezeichnet: Er war frohen Mutes, dass es nicht so schlimm würde.

In Paris, Berlin und Frankfurt wird unterschätzt, wie sehr die Gründer an London hängen

Dass in der Start-up-Szene vorerst Gelassenheit herrscht, hat viele Ursachen. Die Gründer arbeiten oft mit Software, Ideen, Konzepten - der einzige bereits spürbare Faktor, das schwache Pfund und damit steigende Importpreise, spielen in der Regel eine geringe Rolle. Hal Watts ist der Chef von Unmade, einem Versandhandel, bei dem der Kunde individualisierte Kleidung bestellen kann, produziert mit Garn aus Italien. "Wenn unser Material jetzt aufgebraucht ist, wird der Nachschub teuer", sagt Watts. Doch nicht einmal für ihn ist Wegziehen eine Option. Das hat seine Gründe in der Start-up-Kultur.

Die kleinen Firmen sind ohnehin auf permanente Anpassung ausgelegt; eine Entscheidung zu treffen, ohne die Brexit-Bedingungen in frühestens zwei Jahren zu kennen, widerspräche ihrer Logik. Stobbs hält, wie Unmade-Gründer Watts, einen Umzug für zu teuer und zu aufwendig. "Wir sollten nicht Ressourcen darauf verschwenden, Mietpreise in anderen Städten zu verhandeln", sagt er. Angst um ihren Zugang zu Europa müssen ohnehin nur wenige Start-ups haben, weil viele bereits internationale Partner haben. Hassle etwa, ein Start-up, das Putzkräfte vermittelt, gehört seit vergangenem Jahr zur Berliner Firma Helpling.

Auch mit der Finanzierung dürfte es wenig Probleme geben: Viele Gelder erhalten die Gründer schon jetzt aus Großbritannien. Dass dennoch beteiligte europäische Investoren jetzt schon Gelder abziehen, ist ebenfalls unwahrscheinlich, und dass eine gute Idee wegen strenger Regularien künftig keinen Geldgeber finde, halten Branchenkenner für unrealistisch.

Was aber vor allem gern unterschätzt wird in Berlin, Paris und Frankfurt: Die Gründer hängen an London. Eine ähnliche Infrastruktur nachzubilden, wie sie hier gezielt aufgebaut wurde, mit Netzwerken, Veranstaltungen und Räumlichkeiten, mit einem internationalen Flair, würde Jahre dauern, ist Patrick Stobbs überzeugt. Das wiederum ist ein sich selbst verstärkender Effekt. Denn wo ein Jungunternehmen ist, bleiben die anderen gern: "Es gibt einen großen Vorteil davon, im selben Gebäude zu sitzen", sagt Stobbs, denn für ihn geht es auch um Loyalität. "Wir haben schließlich sehr von London profitiert."

Letztlich, sagt Stobbs, könnte es nur unter einem einzigen Aspekt wirklich schwierig werden: Wenn im Zuge eines EU-Austritts die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt wird. Bei Jukedeck ist ein Drittel der Mitarbeiter aus Griechenland, Italien, Schweden und anderen EU-Staaten. Hal Watts von Unmade erzählt, dass bisher Neugierige oft erst hergezogen wären und sich dann einen Job gesucht hätten. Er befürchtet, dass solche Menschen seltener kommen, wenn sie teure Visa benötigen.

Derart strenge Rahmenbedingungen erwarten die wenigsten Gründer. "Ich kann nicht glauben, dass die dumm genug wären, es den Leuten schwer zu machen, hier zu arbeiten", sagt Stobbs. Da er sich aber schon mal geirrt hat, haben sowohl er als auch Watts alle Petitionen für einen Verbleib unterschrieben, die sie finden konnten. Außerdem haben sich innerhalb der Szene mehrere Initiativen gegründet. "Techxit" heißt ein Zusammenschluss von Londoner Start-ups. Mit Briefen, Lobbying und Veranstaltungen setzt sich die Szene bei der Politik für gute Bedingungen im Fall des Brexit ein: weiterhin Zugang zum Markt und vor allem zu Arbeitnehmern. "Die Startup-Szene ist gut in der Lobbyarbeit", sagt Stobbs. Oder auch: ziemlich zuversichtlich.

© SZ vom 21.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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