Gigantischer Stromausfall in Indien:Die dunkle Seite der Macht

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Auf den Straßen herrschte Chaos, Fabriken standen still: Der Stromausfall hat gezeigt, dass Indiens Wirtschaftswunder verletzlich ist. Das Land stößt an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Und mehr als 300 Millionen Menschen in den Slums warten noch immer vergeblich darauf, dass die Regierung sie überhaupt mit Elektrizität versorgt.

Tobias Matern

Erleichtert sieht der Mann aus. Sushil Kumar Shinde sitzt in seinem Garten. Die Vögel zwitschern, ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen. Es ist Mittwochmorgen, bis zum Abend zuvor war der Politiker der mächtigen Kongresspartei noch der Energieminister Indiens. Nun hat er den Nachrichtensender NDTV zum Gespräch gebeten. Es gibt viel zu bereden, die Journalistin darf ausführlich Fragen stellen.

Haareschneiden bei Kerzenschein: Mehr als 600 Millionen Inder waren vom Stromausfall betroffen. In manchen Friseurläden hat das zu riskanten Schnitten geführt. (Foto: AP)

Schließlich hatten am Tag zuvor bis zu 650 Millionen Landsleute keinen Strom. Das heißt, etwa jeder zehnte Erdenbürger musste, falls denn eine Stromleitung sein Zuhause erreicht, zeitweilig ohne Licht, Fernseher, Kühlschrank oder Metro auskommen. Eine solche Dimension wird erreicht, wenn in halb Indien, erst im Norden, dann noch im Nordosten und im Osten, zentrale Netze nach und nach kollabieren und einen Dominoeffekt auslösen.

Ist also ein gescheiterter Politiker zu beobachten, ein Mann, der nun, von der Last des Amtes befreit, freimütig Fehler einräumt? Das Gegenteil ist zu erleben: Shinde lobt sich selbst und seine Mitarbeiter. In wenigen Stunden hätten sie nach den Black-outs die Versorgung wiederhergestellt. Bei einem vergleichbaren Stromausfall in den Vereinigten Staaten vor einigen Jahren seien ganze vier Tage verstrichen, bis die Leitungen wieder in Gang gebracht worden seien. Nicht nur Indien an sich habe in der Krise also seine herausragenden Fähigkeiten unter Beweis gestellt, findet Shinde - sondern auch er persönlich. Falls sich der Ex-Energieminister eine Beurteilung geben müsste, fiele die eindeutig positiv aus, sagt der 60-Jährige: "Exzellent."

In anderen Ländern müsste sich ein Minister wie Shinde nicht nur ein paar Minuten im Fernsehen verantworten. Möglicherweise entstünde der Eindruck, der Mann habe seinen Job verfehlt. In Indien sieht das Resultat aber so aus: Shinde verliert das Amt als Energieminister - dafür wurde er bereits am Dienstagabend, als noch nicht überall der Strom wieder lief, auf einen der mächtigsten Ministerposten befördert, die es in Delhi gibt. Er leitet nun das Innenressort. Das sei schon lange geplant gewesen, und die Regierung habe keinen Anlass gesehen, diese Pläne zu ändern, erklärt der Politiker zufrieden.

Ungewollt fasste Shinde in dem Interview alles zusammen, was in der indischen Regierung schiefläuft. Es fehlt die Verantwortlichkeit und die Bereitschaft, Krisen für einen Neuanfang zu nutzen. Die von der Kongresspartei angeführte Koalition hat schon eine Reihe von Korruptionsskandalen durchgestanden. Auch die Nachricht, das Wirtschaftswachstum des Landes sei im ersten Quartal so niedrig ausgefallen wie seit neun Jahren nicht, hatte Schockwellen ausgelöst - doch der ehemalige Finanzminister Pranab Mukherjee, während dessen Amtszeit die indische Rupie massiv an Wert verloren hat und dem Kritiker eine unternehmerfeindliche Politik vorwarfen, ist kürzlich zum Präsidenten aufgestiegen.

"Supermacht Indien, ruhe in Frieden"

Die Mittelschicht, die auf dem Subkontinent politisch deutlich aktiver geworden ist, debattiert auch nach dem Black-out, ob diese Regierung noch tragbar sei. Ihr Sprachrohr, die englischsprachige Presse, fällt ein vernichtendes Urteil: "Energie- und ahnungslos" agiere die Führung, giftet die Times of India. Ein anderes Blatt läutet gleich die Totenglocke für die einst hochtrabenden Ambitionen des Schwellenlandes: "Supermacht Indien, ruhe in Frieden." Die Kongresspartei unter der mächtigen Parteichefin Sonia Gandhi und Premierminister Manmohan Singh bringe weder die Kraft noch den Willen für einen Neuanfang auf, heißt es in Delhi.

Nach dem Black-out wird die Kritik nun noch heftiger, denn die Ereignisse der vergangenen beiden Tage wird das Land so schnell nicht vergessen. Der Nahverkehr fiel in weiten Teilen des Nordens und Ostens aus, die Metro in Delhi kam zum Erliegen. Auch Fernzüge mussten ihren Betrieb einstellen. Hunderte Minenarbeiter harrten stundenlang unter Tage aus, weil die Aufzüge nicht mehr fuhren. Krankenhäuser und Flughäfen stellten auf eine Notstromversorgung um. Auf den schon an normalen Tagen überlasteten Straßen der Hauptstadt herrschte Chaos, weil die Ampeln ausfielen.

Shinde erklärte zum Abschied als Energieminister, der überbordende Bedarf der Regionen sei für die Ausfälle verantwortlich gewesen. Da zu viel Strom abgerufen worden wäre, sei das komplette Netz zusammengebrochen. Zahlreiche Vertreter der indischen Staaten wehrten sich vehement gegen diese Darstellung, nur der Energieminister von Haryana räumte ein, man habe die zugeteilten Vorgaben tatsächlich überschritten. "Wir werden jetzt einfach dafür beschuldigt, was jeder macht", sagte er.

Der neue Energieminister in Delhi, Veerappa Moily, kündigte an, er werde jetzt eine umfassende Energie-Strategie ausarbeiten. Allerdings räumte ein hochrangiger Vertreter seines Ministeriums ein, man könne nicht ausschließen, dass es bald erneut zum Black-out komme. Die genaue Ursache der jüngsten Krise sei nicht identifiziert worden, sagte der Beamte, der sich anonym äußerte, einem indischen Sender.

Experten in Delhi glauben, der unmittelbare Auslöser für die Black-outs sei eine Folge des ungewöhnlich mäßigen Monsuns. Wenn die für diese Jahreszeit typischen Regengüsse ausbleiben, müssen Zehntausende Bauern das Wasser auf die Felder pumpen. Das frisst jede Menge Strom. Hinzu kommt: In den heißen, stickigen Sommermonaten laufen die Klimaanlagen in den Büros und Privathaushalten, die es sich leisten können, permanent auf Hochtouren. Wenn die für jeden Bundesstaat zugeteilten Strom-Obergrenzen weder eingehalten noch angemessen überwacht werden, kommt es zum Kollaps - wie am Montag und Dienstag.

300 Millionen Menschen haben gar keinen Strom

Der mäßige Monsun gilt aber nur als unmittelbarer Auslöser der jüngsten Krise. Der Energiemarkt in Indien hat mit strukturellen Problemen zu kämpfen. Die Ärmsten der Armen werden immer noch kaum versorgt, und der Wirtschaftsaufschwung überfordert das Stromnetz.

Reformen in dem Sektor sind verschleppt worden. Mehr als die Hälfte des indischen Stroms wird noch immer basierend auf Kohle erzeugt. Die Ressource war zuletzt knapp, viele Kraftwerke konnten deshalb ihre Leistungsgrenzen nicht ausschöpfen.

Obwohl die Kapazitäten bereits jetzt nicht ausreichen, haben in Indien 300 Millionen Menschen gar keinen, 300 weitere Millionen höchstens sporadisch Zugang zu Strom. Ihr Überlebenskampf in Slums oder im unterentwickelten ländlichen Raum besteht aus Improvisation. Strom ist hier purer Luxus. Wenn überhaupt erhältlich, wird er nicht selten illegal abgezapft.

Bei der gehobenen Mittelschicht Indiens allerdings führen stundenlange Stromausfälle nur zu geringer Erregung. Black-outs gehören auch in Großstädten zum Alltag, wenn auch nicht in so ausdauernder Form wie in dieser Woche. Dieselgeneratoren sorgen dann in Luxushotels, Restaurants und den Wohngegenden der Wohlhabenden dafür, dass die Klimaanlage bei tropischen Temperaturen die Räume auch dann angenehm weiterkühlt, wenn der indische Staat keinen Strom mehr bereitstellen kann.

© SZ vom 02.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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