Gewerkschaften:Die Grenzen der Solidarität

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Warum die Gewerkschaften trotz allem eine sehr nützliche Institution waren und es auch wieder werden könnten.

Nikolaus Piper

(SZ vom 19.07.02) - Heute wollen wir die Gewerkschaften einmal loben. Deshalb wird im Folgenden nicht von Jürgen Peters die Rede sein, auch nicht von Klaus Zwickel, Berthold Huber, Frank Bsirske und all den anderen. Sondern von Hans. Über Hans ist noch nie eine Zeile in der Zeitung gestanden, aber an seiner Biografie lässt sich umso besser zeigen, warum die Gewerkschaften eigentlich eine nützliche Einrichtung sein könnten und warum sie es heute nicht sind.

Das IG-Metall-Logo steht auf dem Kopf - wenn es sich im Wasserglas spiegelt. (Foto: dpa)

Froh, überlebt zu haben

Hans, Jahrgang 1920, gehörte zu jenen Deutschen, denen Hitler die besten Jahre seines Lebens gestohlen hatte: Arbeitsdienst, Wehrdienst, Krieg, vier Jahre sowjetische Gefangenschaft. Hans konnte froh sein, dass er den Horror in Stalingrad und Kurland wenigstens überlebt hatte. Und so stand er an einem Junitag des Jahres 1949 müde auf dem zerbombten Hauptbahnhof von Stuttgart und wunderte sich.

Er wunderte sich, dass seine Frau nach all den Jahren noch da war. Noch mehr wunderte er sich aber, was es zwischen den Trümmern schon wieder alles zu kaufen gab und wie gut gekleidet manche Leute herumliefen. Ein Gefühl sagte ihm, dass er Gefahr lief, auch noch um den Rest seines Lebens betrogen zu werden.

Deshalb trat Hans am nächsten Tag in die Gewerkschaft Leder ein. Sie war zuständig für Polsterer, wie Hans einer war, außerdem war sie "eine kleine, aber feine Gewerkschaft". So formulierte Hans es später einmal rückblickend.

Heute gibt es die Gewerkschaft Leder schon lange nicht mehr; während des Fusionsfiebers der neunziger Jahre ist sie in der IG Bergbau und Chemie aufgegangen.

"Kameradschaft"

Hätte man Hans damals gefragt, warum er ausgerechnet bei einer Gewerkschaft Schutz vor neuem Betrug suchte, hätte er vermutlich geantwortet: "Kameradschaft".

In Krieg und Gefangenschaft hatte er gelernt, dass man zusammenhalten musste, wenn man Schütze Arsch war. Eine Lehre, in die Hans auch die sowjetischen Soldaten mit einbezog, die ihn im Arbeitslager bei Gorki bewacht hatten. "Die wurden genauso schlecht behandelt wie wir," sagte er.

Später nannte man so eine Einstellung "Solidarität", wenn nicht gar "Klassenbewusstsein".

Und Stolz spielte auch eine Rolle. Was das Dritte Reich betraf, so hatte Hans sich nichts vorzuwerfen - ganz im Gegensatz zu all den bürgerlichen Schnöseln, die sich nach 1949 wieder in den Chefetagen breit machten. Er war seinerzeit Mitglied in der katholischen Jungen Gemeinde im Freiburger Arbeiterstadtteil Haslach gewesen und hatte es mit jungenhafter Sturheit geschafft, nie eine HJ-Versammlung zu besuchen.

Hans bewunderte deshalb Leute wie Willi Bleicher, der von 1938 bis 1945 im KZ Buchenwald saß und danach in Stuttgart die Gewerkschaftsjugend und die IG Metall aufbaute.

Linke Gesinnung und schwäbischer Pragmatismus

Bleicher verband eine stramm linke Gesinnung mit schwäbischem Pragmatismus und vermittelte deshalb den Arbeitern die Gewissheit, dass dieser Staat auch ihr Staat werden konnte.

Damals verfochten die Gewerkschaften das Konzept der "expansiven Lohnpolitik'', das der marxistische Ökonom Viktor Agartz formuliert hatte: Kräftige Lohnforderungen sollten Rationalisierungen erzwingen und so Wohlstand schaffen.

Später wollten die Gewerkschaften mittels kräftiger Lohnerhöhungen das genaue Gegenteil erreichen, nämlich zusätzliche Arbeitsplätze; das Konzept nannte man "Kaufkrafttheorie des Lohnes'', aber das ist eine andere Geschichte.

Man weiß nicht genau, ob der Wohlstand in den fünfziger Jahren wegen oder trotz der Lohnpolitik stieg. Hans jedenfalls war ein exzellenter Polsterer und er verdiente gutes Geld, als die Bundesbürger begannen, ihre Wohnungen gemütlich einzurichten.

Kesse Blicke

Er kaufte sich schicke Anzüge und die Frauen auf der Königstraße warfen ihm kesse Blicke zu. Samstags ging er mit seiner Tochter ins Neckarstadion zum VfB Stuttgart und am Sonntag mit der ganzen Familie ins Waldheim im Krumbachtal.

Das Waldheim wurde von den Naturfreunden betrieben, die auch irgendwie Teil der Arbeiterbewegung waren.

Bei alledem ging es um Würde: Nie wieder würde Hans zurückstecken müssen, nur weil er ein Arbeiter war. Mit dem Chef konnte er von gleich zu gleich verkehren; das war alles andere als selbstverständlich und es hatte wieder etwas mit den Gewerkschaften zu tun.

Organisationen haben ein langes Gedächtnis und in diesem kollektiven Gedächtnis waren nicht nur die zwölf Jahre der Naziherrschaft eingegraben, sondern die Erinnerung an hundert Jahre Demütigung und Standesdünkel.

Geharnischter Protest

Als im Jahr 1884 Arbeiterausschüsse in den Fabriken gegründet werden sollten, legte der Zentralverband der Industriellen, Vorläuferorganisation des BDI im Deutschen Reich, einen geharnischten Protest ein.

Derartige Ausschüsse bedeuteten "einen bedenklichen Schritt der Loslösung der Arbeiter von ihren durch Gewohnheit, Sitte und Recht geschaffenen Beziehungen zu ihrem Arbeitgeber.

Der Arbeiter wird immer ein ungebildeter, wenig Verständnis zeigender Mensch bleiben, und nach seiner ganzen Erziehung kann er auch gar nichts anderes sein." Die Erinnerung an solche Sätze mag das anachronistische Pathos der gewerkschaftlichen Rituale von Warnstreik, Urabstimmung erklären, wenn auch nicht entschuldigen.

In der bundesrepublikanischen Wirklichkeit gab es derartigen Standesdünkel sicher nicht mehr. Dafür beobachtete Hans plötzlich eine neue Art von Dünkel.

Gute Familien und schlechte Manieren

Es war Anfang der siebziger Jahre, da entdeckten plötzlich junge Leute die Gewerkschaften und gingen in die SPD: Studenten aus guten Familien und mit schlechten Manieren. Sie wollten den Arbeitern das Klassenbewusstsein und den Sozialismus beibringen. Sie redeten von "Bewusstseinserweiterung" und "Arbeiteraristokratie", von "Imperialismus" und "Solidarität", aber sie hatten ganz andere Vorstellungen von Solidarität als Hans.

Ein neuer, ideologischer, ein geradezu gehässiger Ton kehrte in die Versammlungen ein. Hans hatte keine Lust mehr und begann sich zurückzuziehen.

Das Verhältnis von Gewerkschaft und Wirtschaft wurde immer mehr von Ideologie geprägt. 1969 hatten "wilde", nicht organisierte Streiks die IG Metall aufgeschreckt; die Gewerkschaft fürchtete, ihren Rückhalt unter den Arbeitern zu verlieren.

Die Lohnpolitik wurde forscher, was auch deshalb leicht fiel, weil Bundeskanzler Willy Brandt eine Vollbeschäftigungsgarantie seitens des Staates abgegeben hatte. Das nährte die Illusion, die Höhe der Löhne habe mit der Höhe der Beschäftigung nichts zu tun, eine Illusion, die die Gewerkschaften bis heute pflegen.

Entscheidender Praxistest

Der entscheidende Praxistest kam 1974. Damals vervielfachte sich der Ölpreis binnen kurzem und die Gewerkschaften verfielen auf die glorreiche Idee, das Geld, das die Ölscheichs genommen hatten, von den deutschen Arbeitgebern zurückzuholen.

Zum Unglück für die Arbeitnehmer wurde diese Absurdität nicht sofort als solche benannt. Jedenfalls gelang es der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, 1974, sich mitten in der Rezession zweistellige Lohnzuwächse zu erstreiken.

Der fatale Tarifabschluss bereitete den Sturz von Willy Brandt vor und er markiert das definitive Ende der Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik.

Aus der ideologisierten Atmosphäre der frühen siebziger Jahre heraus entstand eine Bewegung, die die Löhne dauerhaft über das vertretbare Maß hinaus trieb - der Beitrag der Gewerkschaften zur Massenarbeitslosigkeit

Plötzliche Massenentlassungen

Auch Hans wurde zurückgeworfen. Er war Betriebsratsvorsitzender, als seine Firma, ein Möbelhersteller, plötzlich Massenentlassungen ankündigte. Hans handelte mit dem Arbeitgeber erst einen Sozialplan aus und verlor dann selbst seinen Arbeitsplatz.

Die Solidarität seiner Gewerkschaft, mit der er fest gerechnet hatte, blieb aus. Wie groß die Enttäuschung war, erfuhr man nur, wenn man sich Zeit für ein paar Gläser Trollinger mit Hans nahm.

Dann sagte er vielleicht, dass es heute keine anständigen Menschen mehr in der Gewerkschaft gebe und dass die Leute nicht wüssten, was Kollegialität ist. Hans ist mit gerade mal 67 Jahren gestorben, und man kann nur ahnen, was er zu dem Streik der IG Metall in Ostdeutschland, zu Jürgen Peters und dem allen gesagt hätte.

Den Ökonomen Friedrich August von Hayek hat Hans nie kennen gelernt, obwohl die beiden eine Zeitlang in derselben Stadt - Freiburg - gelebt haben.

Als sei er der Leibhaftige

Wahrscheinlich hätte er auch gar nicht mit ihm reden mögen, denn in den Gewerkschaften behandelt man Hayek, einen Vordenker dessen, was man Neoliberalismus nennt, bis heute so, als sei er der Leibhaftige.

Tatsächlich hat Hayek die Gewerkschaften, genauer: deren Macht, als große Gefahr für die Freiheit angesehen. Und entsprechend hart und rücksichtslos hat er über sie geschrieben.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich Hayek in seinem Hauptwerk, der "Verfassung der Freiheit" an einer Stelle sehr freundlich, beinahe werbend über die Gewerkschaften äußert: "Gewerkschaften ohne die Macht zu zwingen würden wahrscheinlich sogar im Lohnbildungsprozess eine nützliche und wichtige Rolle spielen."

Zum Beispiel könnten sie für Gerechtigkeit in den Firmen sorgen: "In einer hierarchischen Organisation ist es wichtig, dass die Unterschiede in der Entlohnung für verschiedene Arbeiten und die Regeln des Aufstiegs von der Mehrheit als gerecht empfunden werden."

Zwang auf die Gesellschaft

Es mag den meisten Gewerkschaftern frivol erscheinen, ausgerechnet von Hayek Ratschläge für die Zukunft der eigenen Organisation zu bekommen. Und doch hat der Ökonom - er erhielt im kritischen Jahr 1974 den Wirtschaftsnobelpreis - den entscheidenden Punkt angesprochen: Nicht die Gewerkschaften sind das Problem, es ist ihre Macht, Zwang auf die Gesellschaft auszuüben.

Es ist die Macht, unter der Fassade der Solidarität Geschäfte zu Lasten dritter zu machen. Diese Macht rührt nicht so sehr von der organisatorischen Stärke der Gewerkschaften her, sondern von den Privilegien, die ihnen der Staat eingeräumt hat.

Indem er zum Beispiel Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt und indem er Abweichungen von diesen Tarifverträge zwar nicht unmöglich macht, so doch erschwert. Oder indem er den Gewerkschaften Zugang zu den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften verschafft hat.

Natürlich leisten die Organisationen auch heute noch Nützliches: Sie vereinfachen und standardisieren Lohnfindungsprozesse, sie schulen Betriebsräte und gewähren Arbeitnehmern Rechtsschutz. Aber diese Vorteile fallen immer weniger ins Gewicht, seit die Gewerkschaften mit ihrer vom Staat verliehenen "Macht zu zwingen" Arbeitslosigkeit produzieren.

Akte der Erpressung

So werden aus Streiks Akte der Erpressung und aus Tarifabschlüssen Kartellvereinbarungen, die sich gegen den Rest der Gesellschaft wenden.

Das Beste, was den Gewerkschaften daher passieren könnte, wäre der Verlust dieser unverhältnismäßigen Macht. Wenn es zum Beispiel unmöglich wird, die Streikkosten auf die Beitragszahler, also auf andere Arbeitnehmer, zu überwälzen, werden Streiks glaubwürdiger und legitimer.

Wenn Tariflöhne nicht notorisch zu hoch sind, dann kann die Kompetenz der gewerkschaftlichen Tarifexperten erst wirklich Nutzen entfalten.

Am Anfang der Gewerkschaftsbewegung stand der Wille, den Arbeitern Würde zu geben. Die Massenarbeitslosigkeit ist heute die größte Bedrohung für die Würde der Arbeitnehmer.

Die Gewerkschaften haben das Problem verschärft, in dem sie ihren Machtanspruch maßlos überdehnt haben. Sie können sich nur erneuern, wenn sie diesen Anspruch zurücknehmen.

Die Lösung des gewerkschaftlichen Problem heißt daher ganz einfach: Bescheidenheit. Vermutlich würde Hans das heute genauso sehen.

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