Gebärdensprache per Internet:Töne, die zu Gesten werden

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Für Menschen, deren Gehör geschädigt ist, bietet Michaela Nachtrab Übersetzungen in Gebärdensprache - zum Beispiel während politischer Debatten. (Foto: Stephan Rumpf)

Dolmetschen ist anstrengend. Eine Firma will aushelfen. Sie übersetzt für hörgeschädigte Studenten in Echtzeit Vorlesungen und entwickelt neue technische Lösungen.

Von Helmut Martin-Jung

Die Chefin ist eine gefragte Frau. Hier eine Entscheidung, dort ein Rat. Und noch schnell ein Telefonat - "komme gleich!", ruft Michaela Nachtrab dem Reporter zu. Aus ihrem Start-up Verbavoice ist ein Unternehmen mit 50 Vollzeitstellen und etwa 200 freien Mitarbeitern geworden. Kilian Knörzer ist einer von ihnen und gerade voll konzentriert. "Man muss schnell sein", sagt der junge Mann in einer Pause, "die Mimik ist wichtig." Knörzer hat einen besonderen Job. Er übersetzt Live-Veranstaltungen - Debatten im Bayerischen Landtag oder auch im Bundestag zum Beispiel - in Gebärdensprache. In einem kleinen Studio der Münchner Firma steht er vor einer blauen Wand. Eine Kamera ist auf ihn gerichtet, auf dem Bildschirm vor ihm läuft eine Debatte im Landtag. Knörzer sagt, manche würden dabei lieber sitzen, er aber stehe lieber, denn: "Wenn ein Politiker sauer ist, muss ich das auch mit dem Körper ausdrücken."

Der Job ist anstrengend, etwa alle 15 Minuten wechselt er sich daher mit einem anderen Gebärdendolmetscher ab, zum Beispiel, wenn ein neuer Redner ans Pult tritt oder während eine Rede von Applaus unterbrochen wird. Schließlich muss alles stimmen, wenn sich Deutschlands Spitzenpolitiker Rededuelle liefern. Politisch Interessierte, die nicht oder nicht gut genug hören, können so die Debatten live im Internet verfolgen, der Dolmetscher wird dabei auf dem Bildschirm eingeblendet. Daher die blaue Wand. Sie wird im Computer herausgerechnet, und der Dolmetscher scheint neben der Rednerbühne zu stehen - ähnlich wie im Fernsehsender Phoenix, der die Tagesschau mit einem Gebärdendolmetscher ausstrahlt.

Außerdem wird gleichzeitig ein Transskript angefertigt. Dazu wird die Rede als Datei in ein Rechenzentrum geschickt und dort nahezu in Echtzeit in Text umgewandelt - "von den vielen Sprechern haben wir Sprachprofile in der Cloud", sagt Verbavoice-Geschäftsführerin Nachtrab.

Egal wo die Dolmetscher sitzen, sie werden gefilmt und ins Live-Bild eingeschaltet

Knörzers Co-Dolmetscherin ist nicht in dem Gebäude im Münchner Osten, sondern wird online zugeschaltet. Etwa 200 freie Dolmetscher arbeiten für Verbavoice, manche sogar in Japan oder Südamerika. "Das sind meistens ausgewanderte Deutsche, die froh sind, wenn sie so in ihrer Sprache arbeiten können", sagt Nachtrab. Möglich ist das, weil alles übers Netz funktioniert. Die Gebärdendolmetscher, egal ob sie in Peru oder San Francisco sitzen, sehen den Live-Stream einer Veranstaltung, werden bei der Übersetzung in Gebärdensprache vor einer blauen Wand, dem Bluescreen, gefilmt und im Verbavoice-Rechenzentrum ins Live-Bild eingeblendet.

Wenn es nur um Ton geht, der verschriftet werden muss, erhält der Dolmetscher eine Rohübersetzung aus dem Computer. Die ist erstaunlich gut und dazu sehr schnell, aber nicht fehlerfrei. Wenn es auf höchste Qualität ankommt, gucken daher immer Dolmetscher drauf und verbessern, was der Computer falsch erfasst hat.

Ihre Firma hat Nachtrab 2009 gegründet , nachdem sie bei einem freiwilligen sozialen Jahr in einer Einrichtung für Gehörlose in Nürnberg gearbeitet hatte und anschließend Gehörlosenpädagogik und BWL studierte. Ihre Idee kam zur rechten Zeit: Kleine Computer waren gerade erschwinglich genug und das mobile Internet leistungsfähig geworden. Vor allem hörgeschädigte Schüler und Studenten waren damals die Zielgruppe. Sie haben ein Anrecht darauf, einen Gebärdendolmetscher gestellt zu bekommen. Zuständig dafür sind in Bayern zum Beispiel die Bezirke.

Doch das ist zum einen teuer, zum anderen fallen die Studenten damit mehr auf, als es die meisten wollen. Mit Verbavoice konnten sie plötzlich ungestört vor ihrem Laptop sitzen, bekamen die Vorlesung live übersetzt und verschriftet - was übrigens auch die Kommilitonen interessierte, wie Nachtrab weiß. Dazu musste nur der Dozent ein kleines tragbares Mikro benutzen. Für die Sozialbehörden, die den Dolmetscher bezahlen, kommt die internetgestützte Hilfe auch billiger. Kein Wunder, dass das Start-up für seinen Dienst viel Unterstützung erhielt. Die Münchner Telekommunikationsfirma O2 zum Beispiel stellte Verbavoice Kapazität in ihrem Rechenzentrum zur Verfügung. Im Flur des Unternehmensgebäudes hängen allein 35 Urkunden von Auszeichnungen und Wettbewerben.

Doch in der Technik, die Verbavoice entwickelt hat, steckt viel mehr, und allmählich beginnt man, dieses Potenzial auch auszuschöpfen. Denn nicht nur der Staat muss dafür sorgen, dass alle an der politischen Debatte teilhaben können, auch für Unternehmen und Veranstaltungen ist Barrierefreiheit ein Thema, und, mehr noch, die Technik kann auch darüber hinaus eingesetzt werden. Bei multinationalen Konzernen etwa kann die Hauptversammlung simultan in mehrere Sprachen übersetzt werden. Für den Standard HbbTV, den Nachfolger des antiquierten Videotext-Dienstes, hat die Firma einen automatischen Untertitel-Generator erzeugt. Der blendet nahezu in Echtzeit ein, was gesprochen wird - bei Nachrichtensendungen mit professionellen Sprechern funktioniert das nahezu fehlerfrei. Eine gute Sache etwa für Flughäfen, wo die TV-Geräte meist stummgeschaltet sind.

Längst redet die Firma nicht mehr nur mit Sozialträgern, sondern etwa auch mit Fußballclubs

Mit dem japanischen Technologiekonzern Sony hat Verbavoice an einer Brille getüftelt, die ebenfalls Untertitel einblendet - so kann man den Kopf auch mal vom Bildschirm abwenden und bekommt doch mit, was gesprochen wird. Längst redet Verbavoice nicht mehr nur mit Sozialträgern, sondern mit Veranstaltern und TV-Anbietern. Ein Club aus der Fußball-Bundesliga setzt das System schon für sein Vereinsfernsehen ein, ebenso der DFB.

"Wir wollen einen Schritt aus der Hörgeschädigten-Welt heraus machen zu Übersetzungen von Veranstaltungen", sagt Nachtrab. Vor einigen Monaten hat Verbavoice unter anderem den Auftrag des Bundestages erhalten. Die Debatten in der Kernzeit überträgt die Firma nun live, danach werden die Debatten geschnitten und für die Mediathek aufbereitet. Wer es wünscht (und bezahlt), bekommt die Übertragung in einer eigenen App für Tablets oder Smartphones, Verbavoice ist dann nur der Dienstleister im Hintergrund.

Zwischen 2,5 und drei Millionen Euro Umsatz macht das Unternehmen mittlerweile pro Jahr, doch die zahlreichen entwicklungsintensiven Projekte kosten Geld. Trotzdem will die Firma noch in diesem Jahr erstmals die Gewinnschwelle erreichen. Für die energische Firmengründerin bleibt noch viel zu tun.

© SZ vom 23.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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