Gastbeitrag:Populisten überlisten

Lesezeit: 5 min

Der digitale Fortschritt verunsichert viele und treibt sie in die Arme von Politikern wie Trump. Unternehmer müssen etwas dagegen tun.

Von Charles-Edouard Bouée

Warum ist der Populismus derzeit ein politisches Erfolgsmodell? Warum erfasst er immer mehr wohlhabende Gesellschaften wie die USA und Europa, aber auch Schwellenländer wie Brasilien? Die Ursachen dafür liegen unter anderem in der ungerechten Verteilung des Wohlstands, in den Migrationsbewegungen und im weitverbreiteten Gefühl der Menschen, vom Fortschritt ausgeschlossen zu sein. Aber ich meine, ein weiterer ganz entscheidender Grund ist, dass die Menschen zunehmend verunsichert sind angesichts der Digitalisierung und der immer schnelleren Abfolge technologischer Veränderungen, die ihr eigenes Leben und gesellschaftliche Ordnungen infrage stellen.

Seit Jahrzehnten fegt ein regelrechter Wissens-Tsunami über uns hinweg. Personal Computer, Handy, Internet und Smartphone haben unseren Alltag revolutioniert. Die bedeutendsten Veränderungen, die uns bevorstehen, können wir nur erahnen. Die Finanzkrise von 2008 trug ihren Teil dazu bei: Viele Unternehmer nutzten die Gunst der Stunde und die plötzlich nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehenden Mittel, um in neue Technologien zu investieren. Das beschleunigte nicht zuletzt die Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI). Wie ein Strudel erfassen disruptive Technologien alle Bereiche unseres Lebens und stellen sie auf den Kopf.

Rational betrachtet bietet der technologische Wandel unbestreitbare Vorteile. Träumen wir nicht alle von einer Welt mit weniger Verkehrsunfällen? In der wir Krankheiten frühzeitig erkennen und behandeln? In der Umweltschutz Normalität ist? In der eine nachhaltige Landwirtschaft mehr Menschen versorgt und zugleich die Qualität unserer Lebensmittel verbessert? KI kann all das ermöglichen. So arbeitet zum Beispiel das Start-up Sentient AI mit dem amerikanischen Forschungsinstitut MIT an der qualitativen Verbesserung des globalen Getreideanbaus - mit überzeugenden ersten Ergebnissen.

Obwohl damit unsere Vision von einer besseren Zukunft in greifbare Nähe rückt, überwiegt die Angst: vor dem Missbrauch unserer Daten, vor dem Verlust von Arbeitsplätzen, von Kontrolle und Selbstbestimmung - ein paradoxer Kampf zwischen Kopf und Bauchgefühl. Es geht dabei auch um die Zukunft unserer Kinder.

Einen ähnlich großen Umbruch gab es schon einmal, zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Auch damals explodierte das Wissen der Menschen. Sie wollten ihre Mündigkeit zeigen, die Gesellschaft umkrempeln und herrschende Eliten entmachten - angetrieben durch den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Das war ein anstrengender und langwieriger, aber letztlich revolutionärer Prozess. Während die Aufklärung eine lange Phase des Fortschritts und Wachstums zur Folge hatte, führen die disruptiven Entwicklungen von heute bei vielen zur Identitätskrise. Statt sich den Herausforderungen zu stellen, ziehen sie sich auf das Jetzt und Heute zurück. Das öffnet Populisten Tür und Tor, und sie nutzen unsere moderne, vernetzte Welt der Kommunikation und soziale Medien.

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Zudem wankt unsere gewohnte Ordnung: Wir stehen vor einer Phase erhöhter Zinsen, Geld wird nicht mehr unbegrenzt zur Verfügung stehen. Dadurch wird sich die technologische Entwicklung verlangsamen, die Wirtschaft leiden, Pleiten werden zunehmen und viele hoffnungsvolle Jungunternehmer die Arbeitslosigkeit kennenlernen. Abstiegsangst und Existenznöte werden auch die bisherigen Eliten erfassen. Was eine übliche Rezession im Laufe eines Wirtschaftszyklus ist, kann heute ein viel größeres Feuer entfachen. Neue "Anführer" greifen die Ängste der Menschen auf und spielen mit ihrer Verunsicherung. Die Trumps und Bolsonaros, die Brexit-Verfechter und Salvinis dieser Welt verfolgen aus Eigennutz nur ein Interesse: für immer mehr Verunsicherung zu sorgen.

Wir Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft müssen uns dieser Realität stellen. Wir sind für viele das Symbol einer verfehlten, ungerechten Entwicklung, die immer weniger Gewinner und immer mehr Verlierer hervorbringt. Und wir laufen Gefahr, von den neuen Wortführern verdrängt zu werden. Das wird nicht nur die Wirtschaft schwächen und den technologischen Fortschritt erheblich bremsen, sondern auch die Gesellschaft in eine gefährliche Krise stürzen. Diese Erkenntnis muss das zukünftige unternehmerische und politische Handeln bestimmen.

Wir müssen die Menschen dazu motivieren, ihre Chancen zu ergreifen

Denn die Zukunft bietet auch neue Chancen, neue Gestaltungsspielräume und mehr persönliche Freiheiten, um eigene Entscheidungen zu treffen. Das müssen wir überzeugend erklären. Und die Menschen dazu motivieren, ihre Chancen zu ergreifen. Meine Vision ist, dass Europa - und allen voran seine Führungspersönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft - sich ihrer gemeinsamen Verantwortung stellen. Zusammen müssen wir ein politisches und gesellschaftliches Programm entwickeln, das Struktur in die unübersichtliche Welt bringt und den Bürgern nicht nur Hoffnung für die Zukunft, sondern auch Enthusiasmus vermittelt - ein Programm für mehr Mut, Transparenz und Flexibilität.

Technologische Fortschritte wie die künstliche Intelligenz können uns dabei helfen. Die Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik müssen den Menschen die Vorteile dieser neuen Technologien erklären: KI erhöht die Sicherheit im Straßenverkehr, erlaubt eine bessere globale Versorgung mit Lebensmitteln, schafft neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt und hilft dabei, "Fake News" und damit Populisten zu bekämpfen. KI wird dem Menschen nicht schaden, sondern ihm zu neuem Selbstbewusstsein verhelfen und einen Mehrwert für die Gesellschaft bieten.

Künstliche Intelligenz wird eine Erweiterung der menschlichen Intelligenz sein

Klare Begrifflichkeiten sind dabei entscheidend. Was ist künstliche Intelligenz? Ich plädiere dafür, diesen Begriff auszutauschen. Er erweckt den Eindruck, die menschliche Intelligenz würde mit einer anderen, potenziell mächtigeren und bedrohlichen Form konkurrieren. Vielmehr sollten wir die Leistungen von Computern und Robotern als Erweiterung und Unterstützung der menschlichen Intelligenz beschreiben. Wir müssen die Bürger von der Komplementarität von Mensch und Maschine überzeugen, also davon, dass intelligente Maschinen die Arbeit erleichtern, sie aber nicht ersetzen werden.

Um die Chancen der Technologisierung zu ergreifen, ist auch mehr Flexibilität in unserem Denken erforderlich, etwa auf dem Arbeitsmarkt. Eine aktuelle Studie des Weltwirtschaftsforums besagt, dass Maschinen bis zum Jahr 2022 rund 75 Millionen menschliche Arbeitsplätze ersetzt haben werden. Gleichzeitig soll es aber dank der Digitalisierung 133 Millionen neue Stellen geben, wir werden aus einer Vielzahl neuer Jobs wählen können. Für Politik und Wirtschaft bedeutet das: Wir müssen Fortbildungen und Umschulungen anbieten, die Mitarbeiter bei der Hand nehmen und sie motivieren.

Transparenz ist der Schlüssel, damit Wirtschaft und Politik Vertrauen schaffen können. Menschen wollen wissen, was hinter den Algorithmen steckt und welchem Zweck sie dienen. Technologie ist wichtig, aber der Schutz von Privatleben und Intimsphäre des Menschen haben Vorrang. Künftig können wir nur dann echte Fortschritte erzielen, wenn Datenschutz auch Datensouveränität garantiert. Die Datenschutzgrundverordnung der EU war hier ein wichtiger Schritt. Politiker müssen klug regulieren und dabei über die eigenen Landesgrenzen hinwegblicken.

Sich auf neue Technologien einzulassen, erfordert Mut. KI wird eine Erweiterung der menschlichen Intelligenz sein. Es geht also darum, eine Brücke zwischen eigenem und erweitertem Verstand zu bauen, nach dem Motto: "Habe Mut, dich deines eigenen sowie des Verstandes der Maschine zu bedienen." Diese Brücke muss nicht rein rationaler Natur sein. Sie wird stabiler, wenn sie auf Emotionen basiert.

Stehen die neuen Technologien nun für eine verheißungsvolle Zukunft oder für Gefahr? Diese Frage stellten sich unsere Vorfahren auch - nur war es bei ihnen der elektrische Strom, der die Gemüter bewegte. Heute ist Strom zum Symbol des Fortschritts geworden. Staaten und Unternehmen haben sich verpflichtet, ihn allen zugänglich zu machen und für den Wohlstand aller einzusetzen. Dieselbe Leistung gilt es nun mit KI zu vollbringen. Sie kann uns intelligenter und stärker machen - als Individuen und als Gesellschaft. Und sie kann uns helfen, den Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

© SZ vom 13.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: