Gastbeitrag:Enttäuschte Hoffnung

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Hierarchien haben heute einen schlechten Ruf, viele Organisationen setzen daher auf Teams. Das soll Entscheidungen erleichtern, tut es aber oft nicht.

Von Stefan Kühl

Hierarchie wurde lange Zeit kritiklos als der zentrale Koordinationsmechanismus für Unternehmen, Verwaltungen, Armeen, Krankenhäuser, Gefängnisse, aber auch für Universitäten, Schulen und Parteien akzeptiert. Abgesehen von vereinzelten Demokratisierungsversuchen galt Hierarchie lange Zeit als das Steuerungsinstrument par excellence, um komplexe Entscheidungsprozesse miteinander zu verknüpfen.

Inzwischen haben Hierarchien in den meisten Organisationen jedoch eine schlechte Reputation. Beschwerden über mangelhafte Informationsflüsse durch zu steile Hierarchien gehören heute in vielen Organisationen zum Alltag. Hierarchien würden, so der Vorwurf, zu Informations-Osmose führen, in der hierarchische Stellen wie halbdurchlässige Membranen Informationen zwar langsam von oben nach unten diffundieren lassen, kritische Informationen aber kaum von unten nach oben weitergeben. Das Credo in vielen Organisationen ist daher: "Die Hierarchie, so wie wir sie kennen, gehört abgeschafft." Mit Verweis auf neue agilere Organisationsformen wird der Todesstoß für die klassische Hierarchie verkündet. Die Rede ist von der Hierarchie als Auslaufmodell, das zunehmend durch modernere Organisationsformen ersetzt wird, in denen Führung je nach Thema schnell wechseln kann.

Auch wenn die meisten Organisationen nicht komplett auf Hierarchien verzichten, setzen sie doch zunehmend auf eine Abflachung ihrer Hierarchien. Zu diesem Zweck werden ganze Hierarchieebenen aus der Organisation herausgeschnitten. Parallel werden auf den jeweiligen Hierarchieebenen keine Vorgesetzten mehr eingesetzt, sondern Teams aus gleichberechtigten Mitgliedern gebildet. Kurz gesagt: Es wird zwar eine hierarchische Grundstruktur beibehalten, aber die Hoffnung ist, durch den Abbau von Hierarchiestufen die negativen Effekte der Hierarchie abmildern zu können.

Besonders ein Ziel steht dabei im Mittelpunkt: Durch eine weitgehende Abflachung von Hierarchien soll es möglich werden, unter "turbulenten Bedingungen" schneller und treffsicherer Entscheidungen zu fällen. Aber gerade diese Vorstellungen werden allzu häufig enttäuscht.

Sicherlich - die Einführung von Teams auf verschiedenen Ebenen funktioniert in der Regel gut, wenn Entscheidungen "in Ruhe" gefällt werden können. Die Teams haben dann ausreichend Zeit, ein Problem sorgfältig zu analysieren und eine für alle tragbare Entscheidung vorzubereiten. Der Abbau von hierarchischen Weisungsstrukturen ist aber immer dann problematisch, wenn unter Zeitdruck einschneidende Entscheidungen getroffen werden müssen, also genau in jenen Situationen, in denen abgeflachte Hierarchien eigentlich als vorteilhaft angesehen werden.

Gerade in kritischen Situationen kann es häufig nicht schnell genug zu Entscheidungen kommen, weil es einem Team schlicht nicht gelingt, einen akzeptablen Konsens zu finden. Besonders wenn es um etwas Wichtiges geht, kann es zu heftigen und zeitaufwendigen Machtkämpfen in den Teams kommen. Dieser Effekt wird in der Diskussion über neue Organisationsformen häufig übersehen, weil hier Macht oft mit Hierarchie gleichgesetzt wird. Wenn die Hierarchie an Bedeutung verliert, dann müssten sich doch - so die vorschnelle Schlussfolgerung - auch die Machtprozesse reduzieren. Der Effekt ist jedoch genau umgekehrt.

Der Grund: Hierarchien verstetigen Machtbeziehungen, weil sich alle Mitglieder - wenigstens in ihrer Selbstdarstellung - an die hierarchische Ordnung gebunden zeigen müssen und Vorgesetzte in vielen Fällen Auseinandersetzungen mit Verweis auf ihre formal abgesicherten Weisungsbefugnisse entscheiden können. Sicherlich - Machtspiele gehören in jeder Organisation, auch in hierarchischen Organisationen, zum Alltag. Sie lassen sich nicht vermeiden, weil die Interessen der Organisationsmitglieder schon allein aufgrund unterschiedlicher Ziele und Aufgaben unterschiedlich sind. Mit der Hierarchie steht aber ein Mechanismus zur Verfügung, mit dem Machtspiele eindämmt werden können.

In Organisationen, die auf Teams ohne hierarchische Spitze einsetzen, bleibt in kritischen Situationen häufig nichts anderes übrig, als die Entscheidung über die Problemlage der nächsthöheren hierarchischen Ebene zu überlassen. Da die Problemlage aber oft widersprüchlich und zwiespältig ist, reproduziert sich das Entscheidungsproblem dann noch einmal auf der Ebene des Führungsteams. Teilweise stellt sich das Entscheidungsproblem auf der nächsthöheren Führungsebene sogar noch verschärfter dar, weil diese im Vergleich zu operativen Teams ein wesentlich weniger standardisiertes Aufgabenspektrum hat und über weniger eindeutige Kriterien verfügt, mit denen offene Fragen geklärt werden können.

Wenn Organisationen konsequent über mehrere Hierarchieebenen mit gleichberechtigten Teams arbeiten, steht eine zentrale Funktion von Hierarchien, nämlich als "Notbremse" für ausufernde Diskussionsprozesse zu dienen, nur noch an der Spitze der Organisation zur Verfügung. Nur hier kann man es sich noch - mit Verweis auf die Akzeptanz der hierarchischen Anweisung als Bedingung der Mitgliedschaft - ersparen, den Untergebenen die Sinnhaftigkeit einer Anweisung im Detail deutlich zu machen. Weil Hierarchien es überflüssig machen, dass Führungskräfte sich auf die persönliche Achtung ihrer Mitarbeiter stützen, hat das Topmanagement die Möglichkeit, schnell auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Das Ergebnis der zurzeit unter dem Begriff des Hierarchieabbaus angesagten Reorganisationen ist deshalb paradox. Denn gerade eine konsequente Abflachung von Hierarchien führt nicht selten zu einer Zentralisierung von Entscheidungen. In Krisenmomenten wird dabei die hierarchische Grundstruktur der Organisation für alle sichtbar, wenn über Entlassungen, Lohnkürzungen oder über Arbeitszeitverlängerungen nicht im Konsens, sondern plötzlich qua Vorgesetztenentscheidung entschieden wird - und zwar viel weiter oben als in Organisationen, die auf eine Abflachung von Hierarchien verzichtet haben.

© SZ vom 16.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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