Das sind die Momente, die ein "Assassin's Creed" ausmachen: Auf einem Turm stehend schauen die Spieler über weites Land. Es wimmelt von geschäftigen Menschen. Eine Hütte lehnt sich an die nächste, dazwischen ragen Prachtbauten auf. Die Spieler wissen, dass dieses Land ihnen zur Verfügung steht. Sie werden Stunden in ihm verbringen, es nach und nach entdecken. Und in der Ferne wartet noch viel mehr.
Das neue "Assassin's Creed: Origins" spielt in einem pseudo-historischen Ägypten der ptolemäischen Pharaonen, um das Jahr 50 v. Chr. In dieser Welt können die Spieler historische Größen wie Cleopatra kennenlernen und detailliert rekonstruierte Bauwerke bestaunen. Protagonist Bayek hat geschworen, Ägypten zu schützen. Er deckt dunkle Mächte auf, die das Land erschüttern wollen. "Assassin's Creed: Origins" vermischt noch besser als die Vorgänger die persönlichen Geschichten des Protagonisten und seiner Umgebung mit dem politischen antiken Weltgeschehen. Es ist wieder die Geschichte einer Auflehnung gegen die Tyrannei.
Und jetzt noch mehr Bombast?
"Assassin's Creed: Origins" ist ein monumentales Spiel. Es kann für unzählige Stunden unterhalten. Egal ob die Spieler von Küste zu Küste reiten, Pyramiden erkunden oder von einem Kampf zum nächsten ziehen wollen. Das Spiel gibt ihnen diese Möglichkeiten - in absurdem Umfang. Es bietet mehr Raum, mehr Tiefe, mehr Geschichte.
Doch das Spiel wirft auch eine Frage auf: Wie kann es nun weitergehen mit Computerspielen? Mit noch mehr Bombast? Noch größeren Welten? Das wäre womöglich nicht der beste Weg.
Insgesamt fühlt sich "Assassin's Creed: Origins" wie das Ende eines langen Weges an, den die monumentalen, filmischen Videospiele zurückgelegt haben. Ein schönes Ende, aber eben ein Ende.
Die filmischen Spiele sind Welten für sich. Die an "Indiana Jones" erinnernde Abenteuer-Reihe "Uncharted" mag zwar enger sein als das weitläufige "Assassin's Creed". Doch in beiden Reihen sind es die detailreichen Umgebungen und das Gewicht der Geschichte, die Spieler beeindrucken. Dasselbe gilt für "Horizon: Zero Dawn", "Dragon Age: Inquisition" und etliche andere Spiele. Mit viel Aufwand - und viel Geld - bauen die Macher komplexe Städte als Kulissen. Sie wollen eine ganze Realität simulieren, eine Welt, in der sich Spieler verlieren können.
Die Technik der nächsten Konsolengeneration wird sicher noch bessere Grafik zulassen. Die Entwickler könnten den Spielern noch mehr Aufgaben geben, sie noch mehr machen lassen. Aber überspitzt ausgedrückt laufen die Spieler im neuen "Assassin's Creed" dann doch einfach nur von einer Zwischensequenz zur nächsten. Sie können in dieser Welt anstellen, was sie möchten. Sie können quer durchs Land reisen, während sie doch eigentlich die Familie retten müssen. An der kommenden Zwischensequenz aber wird sich dadurch nichts ändern. Die wartet so oder so auf die Ankunft der Spieler, um sich dann selbst abzuspielen. Sie wird von den Taten der Spieler nicht beeinflusst. Die Geschichte ist Geschichte, das Spiel hat entschieden. Die Spieler haben die Figur zu steuern, nicht die Erzählung.
In einem riesigen Spiel wie "Assassin's Creed: Origins" wandeln Spieler zwar auf Pfaden, die kein Zweiter geht. Reihenfolgen von Ereignissen und Aufgaben variieren, doch die Variation verliert sich in der großen Spielwelt. Diese Welt wird sich nicht anders verhalten, wenn die Spieler beispielsweise erst einmal mehrere Stunden damit verbringen, das Gebiet zu erkunden. Auch dann wartet noch immer die nächste Mission brav darauf, dass die Spieler bei ihr ankommen. Alles steuert auf die Endsequenz zu, wer auch immer nun wie auch immer spielen mag.
Dabei böte gerade "Assassin's Creed" mehr Möglichkeiten. Denn in der Reihe ging es schon immer darum, eine Bühne zu bereiten. Die Protagonisten sind immer nur Avatare, im Spiel werden sie von Personen aus der Zukunft eingenommen, um die Abenteuer zu erleben. Die schlüpfen also in eine Rolle - wie im Theater. Vielleicht könnte die Zukunft dieser filmischen Videospiele tatsächlich in den Möglichkeiten der Bühne liegen.
Lebendiges Theater, vor allem Improvisationstheater, zeichnet sich durch ständige Veränderung aus. Eine Geste, ein Wort - der kleinste Einfall einer Person auf der Bühne kann den gesamten Abend prägen. Die Schauspieler wissen genauso wie die Spieler vor dem Bildschirm, dass sie gerade Fiktion spielen. Genau dieses Als-Ob treibt sie an. Und so probieren sie aus, interagieren, werden plötzlich zu Königinnen, dann wieder zu Bettlern - verändern sich ständig und verändern damit auch die Welt auf der Bühne.
Dieser Gedanke findet sich bereits im Kern einiger Videospiele. "Echo" etwa lässt die Spieler gegen lernende Gegner antreten. Die Protagonistin namens En erkundet in dem Spiel einen riesigen, verwinkelten Palast. Er wird bevölkert von exakten Kopien ihrer selbst. Diese Kopien werden von künstlicher Intelligenz (KI) gesteuert, die ständig lernt und sich auf jeden einzelnen Spieler einstellt. Diese KI erlernt jeden noch so feinen Kniff, jede ausgeklügelte Strategie des Spielers und verwendet sie gegen diesen. Der Spieler befindet sich damit im steten Kampf gegen sich selbst. Echo ermöglicht echte Interaktion zwischen Spielern und Spiel, einen Raum für Improvisation.
Spiele wie "The Stanley Parable" bringen ebenfalls Elemente des Theaters ins Gaming. Hier erkunden Spieler ein Bürogebäude, das sie eigentlich kennen sollten - schließlich arbeiten ihre Figuren dort. Schnell dekonstruiert sich das Gebäude selbst, erscheint nur noch als leere Kulisse, in der die Spieler sich bewegen. Begleitet wird das von einem Erzähler, der alles kommentiert und immer wieder die vierte Wand bricht, die Spieler selbst also als Teil des Werks erkennt - ganz wie das Publikum eines Theaters.
Mühsam den Berg hoch - und dann wieder von vorn
Die Zwangsläufigkeit des Films im Videospiel könnten Spielemacher auch aufbrechen, indem sie die Unzulänglichkeit umarmen statt die Perfektion. Die Ästhetik des Theaters ist auch geprägt durch das Als-Ob von Kulisse, Requisite und Raum. Es geht nicht um eine möglichst glaubwürdige Repräsentation von Realität, denn das Symbolische steht im Mittelpunkt. So wie in "Journey": Das Spiel macht die Idee der Endlosigkeit des Lebens durch Tod und Wiedergeburt erfahrbar. In einer gleißenden Wüste bewegen sich die Spieler auf den am Horizont stets sichtbaren Berg zu. Sie kommen ihm näher und näher, erklimmen ihn mühsam - und beginnen dann von vorne. Im Spiel mit Symbolen und Metaphern könnten Videospiele noch Wege und Räume entdecken, die klassisch filmischen Inszenierungen verschlossen bleiben.
In diesen Spielen könnten die Spieler quasi das Knirschen der Bühne hören. Das Als-Ob spielen, das ihnen eben keine Realität zeigen möchte - und dennoch eine Wahrheit. Eine Alternative zum Streben nach Realität an der Oberfläche. Eine Alternative, in der noch unentdeckte Spielmechaniken und Erlebnisse auf die Spieler lauern statt nur der besten Darstellung des Augenscheins. Dieses Theater könnte selbst "Assassin's Creed" noch weiterbringen, wenn dieses vor lauter Größe einmal zu eng wird.