Frankreich:Mittagstisch steuerfrei

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Das französische Sozialsystem verpflichtet Arbeitgeber dazu, für das Mittagessen ihrer Mitarbeiter zu sorgen. (Foto: Jay Wennington/unsplash)

In der Kantine schmeckt's nicht? Kein Problem für viele Franzosen. Sie erhalten Essensgutscheine, mit denen sie ins Restaurant gehen können. Auch in anderen Ländern hat das Schule gemacht.

Von Marlene Thiele, Paris

Wie einig Europa auch wirken möchte, die feinen Unterschiede bestehen weiter und zeigen sich nicht zuletzt bei Tisch. Der südländisch-leichte Espresso am Morgen ist etwas ganz anderes als das vollwertige deutsche Frühstück, das in England beliebte, dreieckige Sandwich käme in Deutschland nicht als Tagesgericht aufs Kantinenangebot.

Auch in Frankreich bleibt man den Traditionen treu und nimmt sich Zeit für ein ausgiebiges Essen - auch werktags zur Mittagszeit. Dann schließen in kleineren Städten viele Büros und Geschäfte und die Angestellten verteilen sich über die nahegelegenen Restaurants. Für Entrée, Plat und Dessert müssen die Franzosen jedoch nicht allein aufkommen: Mehr als vier Millionen Angestellte in 140 000 Firmen erhalten sogenannte "Titres restaurants" - Gutscheine fürs Mittagessen. 50 bis 60 Prozent des Wertes übernimmt der Arbeitgeber. Für ihn ist der Beitrag steuerfrei, sofern er pro Mittagessen maximal 5,43 Euro dazugibt. Der Rest, also 40 bis 50 Prozent des Wertes, wird dem Angestellten vom Lohn abgezogen und muss versteuert werden. Die Höhe des Gutscheins ist flexibel - wegen der Vorschriften liegt die Obergrenze aber derzeit bei 10,86 Euro.

In industriestarken Städten muss man für ein Mittagessen natürlich trotzdem draufzahlen - vermutlich haben die Restaurants die "Titres restaurants" längst in ihre Preiskalkulation aufgenommen, schließlich gibt es sie schon seit Jahrzehnten. Die Ursprünge der Gutscheine liegen im England der Fünfzigerjahre, wo ein Arzt seinem Personal damit ein ordentliches Mittagessen ermöglichen wollte.

1962 brachte der Unternehmer Roger Vasselin die Marke "Chèque Restaurant" auf den französischen Markt, 1963 folgte der Restaurantbesitzer Jacques Borel mit "Ticket-Restaurant" und 1964 kam "Chèque Déjeuner" vom Unternehmen Le Chèque Coopératif Restaurant dazu. 1982 gründeten die Banques Populaires außerdem die Marke "Chèque de Table". In den Folgejahren gab es Übernahmen und Namensänderungen, doch die Unternehmen bestanden weiter und teilen auch heute noch den französischen Markt im Wert von derzeit etwa 5,5 Milliarden Euro weitestgehend unter sich auf.

Grundlage des Geschäfts ist das französische Sozialsystem, das Arbeitgeber dazu verpflichtet, für das Mittagessen ihrer Mitarbeiter zu sorgen. Schon 1913 wurde vage formuliert, Unternehmer müssten "zufriedenstellende Gegebenheiten" sichern, unter denen die Angestellten essen können. 1960 wurde die Verpflichtung präzisiert: Der Arbeitgeber muss eine Kantine bereitstellen, wenn mindestens 25 Angestellte dies wünschen. Doch auch dann, wenn keine solche Anfrage eingeht, oder die Firma weniger als 25 Angestellte hat, muss der Arbeitgeber die Verpflegung der Mitarbeiter sicherstellen - etwa, indem er Essen liefern lässt oder eben Restaurantgutscheine verteilt. Seit 1967 sind die Gutscheine als geldwerte Zusatzleistungen anerkannt, frei von Sozialabgaben und mit Steuerbefreiungen verbunden.

Auch in anderen Ländern sind solche Gutscheine heute verbreitet, etwa in Italien, Spanien oder Belgien. Es gibt sie auch in Deutschland, allerdings erhalten nur rund 500 000 Arbeitnehmer die geldwerte Leistung, sie sind also nicht besonders verbreitet. Das könnte an dem weitaus geringeren Steuervorteil liegen: Der steuerfreie Arbeitgeberanteil in Deutschland liegt bei nur 3,10 Euro, ist also um etwa ein Drittel geringer als in Frankreich. Vielleicht essen die Deutschen aber auch einfach anders zu Mittag. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung aus dem Jahr 2017 verpflegen sich 57 Prozent der Erwerbstätigen mit Essen von zu Hause. 18 Prozent verzichten ganz aufs Mittagessen, 21 Prozent gehen in die Kantine, 15 Prozent zum Bäcker oder Imbiss und nur fünf Prozent essen im Restaurant. Für viele Arbeitnehmer muss es vor allem schnell gehen. Doch auch die Franzosen, ob mit Essensgutscheinen oder ohne, sind nicht gezwungen, jeden Mittag drei Gänge im Restaurant zu essen. Neue Regeln erlauben ihnen, die Gutscheine zu sammeln und zu einem späteren Zeitpunkt gleichzeitig einzulösen. Möglich ist das auch im Supermarkt oder beim Bäcker. Die einzige Einschränkung: Die "Titres restaurants" dürfen maximal zu 19 Euro pro Tag und ausschließlich für Lebensmittel eingelöst werden. Das führt dazu, dass der ein oder andere seine eigentlich nicht übertragbaren Gutscheine gern mal an Obdachlose verschenkt und sicher sein kann, dass sie damit etwas zu essen kaufen. Mit den "Titres restaurants" hat sich in Frankreich eine kleine Zweitwährung entwickelt.

Seit einiger Zeit aber ist Bewegung in das Geschäft gekommen. Neue Anbieter drängen in den Markt, die digitale Lösungen für die geldwerten Leistungen entwickelt haben. Beispielsweise gibt es vom Start-up Lunchr Restauranttickets als Mastercard, mit der man natürlich auch online bezahlen kann. Immer mehr Franzosen verzichten aufs Bargeld, da wollen sie nicht für ihr Mittagessen nach Papierzetteln suchen.

© SZ vom 05.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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