Frankreich:Expedition ins Wirtschaftswunderland

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Frankreichs Arbeitgeber bereisen Deutschland - auf der Suche nach den Erfolgsgeheimnissen des starken Nachbarn. Doch nicht alles, was sie dort erfahren, gefällt ihnen.

Von Leo Klimm

Monsieur und Madame Coudoré haben ein kleines Unternehmen. Mit ihm haben sie große Pläne. Sie wollen den deutschen Markt erobern. Oder wenigstens soll ihre kleine Firma für Präzisionsmechanik - 16 Leute, eine Million Euro Umsatz - gut ins Geschäft kommen mit deutschen Partnern. Also sind Christelle und Christophe Coudoré aus Blois im Herzen Frankreichs nach München gereist, wo sie nun im Berufsbildungszentrum von Siemens stehen und große Augen machen.

Die Coudorés wollen verstehen, wie die deutsche Wirtschaft funktioniert. "Wir machen eine Entdeckungsreise", sagt sie. "Wir müssen vom deutschen Modell lernen", sagt er. "Le modèle allemand" - das ist in den vergangenen Jahren ein fester Begriff im Wortschatz französischer Unternehmer geworden. Von Deutschland lernen, heißt siegen lernen, denken sie. Besonders interessiert die Coudorés das Mysterium der deutschen Sozialpartnerschaft: wie man als Patron, als Boss also, das Verhältnis zur Belegschaft pflegt. Oder wie man gute Facharbeiter ausbildet.

"Wow!", entfährt es Christophe Coudoré, als er nun im Siemens-Bildungszentrum einen hell erleuchteten Raum betritt, in dem Metalltechnik-Lehrlinge an Hightech-Maschinen bohren und fräsen. Der Ausbilder erklärt, die Azubis hätten 15 Tage Zeit, in denen sie einen Druckluftmotor bauen und einen dazugehörigen Kostenvoranschlag erstellen sollen. Monsieur Coudoré ist begeistert. Er ist selbst gelernter Dreher, "ich kann das einschätzen", sagt er. Unablässig klickt der Foto-Auslöser seines Smartphones. Hinter ihm raunt ein Mann auf Französisch: "Gigantisch ist das. Allein, was in die Maschinen für die Ausbildung investiert wird! Das sagt alles."

Christelle und Christophe Coudoré sind ja nicht allein auf ihrer Forschungsreise. Eine ganze Delegation von 50 Unternehmenschefs und Managern ist es, die durch Deutschland tingelt; erst durch Unternehmen in Bayern, dann zu Politik und Verbänden nach Berlin. Angeführt von Pierre Gattaz, dem "Patron der Patrons", dem Chef des französischen Arbeitgeberverbandes Medef. Und da diese Reise in eine Zeit fällt, in der Frankreich unter größter Mühe eine wirtschaftliche Modernisierung unternimmt, wirkt der Besuch beim ach so bewunderten deutschen Nachbarn wie ein Spiegel französischer Defizite. Allerdings, so wird die Reise offenbaren, auch der Defizite der Arbeitgeber.

Ihre Erkundungstour in Bayern ist straff durchgetaktet. Bei Siemens geht es um Sozialpartnerschaft und Ausbildung. Beim franko-deutschen IT-Konzern Atos lernen die Firmenlenker mehr über die Digitalisierung der Wirtschaft. Im BMW-Werk bestaunen sie die Produktion deutscher Luxusboliden. Beim Metallbau-Spezialisten MEA in der Kleinstadt Aichach westlich von München ergründen sie den Mythos des deutschen Mittelstands. Und in Augsburg bewundern sie bei MT Aerospace silbern funkelnde Treibstofftanks für Ariane-Raketen. Auch ein landeskundliches Handbuch hat Frankreichs Arbeitgeberverband vorbereitet, in dem der interessierte Expeditionsteilnehmer etwa erfährt, was "Willkommenskultur" übersetzt heißt - und was "Pegida". Oder dass Deutschland enge diplomatische Bande mit der Mongolei pflegt. Dass aber auch Frankreich besonders mit Bayern seit der Hochzeit Karls VI. mit Isabeau im Jahr 1385 privilegierte Beziehungen unterhält.

Die Coudorés aus der französischen Provinz stechen ein bisschen ab in der Medef-Delegation. Nicht nur, weil sie als händchenhaltendes Paar reisen, und Christelle Coudoré mit ihrer knallrosa Plüschbommel-Handtasche sofort ins Auge fällt. Die meisten Teilnehmer - es sind natürlich fast nur Herren - stehen an der Spitze größerer Familienunternehmen aus dem Raum Paris. Manche kommen auch von Konzernen wie dem Kosmetikriesen L'Oréal. Sie gehören zur Kategorie der "grands patrons". Einige sind schon mit Filialen und Fabriken in Deutschland vertreten. Für andere ist Deutschland eine terra incognita. Neuland. Doch für alle ist es das gelobte Wirtschaftswunderland.

"Unsere Gewerkschaften sind nicht konstruktiv, das klappt in Frankreich einfach nicht"

Zu Hause, in Frankreich, sind aufgebrachte Gewerkschafter und Jugendliche gerade dabei, eine vom Medef lang herbeigesehnte Liberalisierung des Arbeitsrechts niederzuprotestieren. Es ist zum Verzweifeln, finden die Arbeitgeber: Seit vielen Jahren beklagen sie einen Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft. Wie viel besser erscheint ihnen da Deutschland: Ein Land, das längst Arbeitsmarktreformen unternommen hat. Ein Land mit weniger Erwerbslosigkeit und stärkerem Wachstum. Ein Land, das seine Industrie erhalten hat und das auch noch jene merkwürdig harmonische Sozialpartnerschaft pflegt: Kein Patron müsste hier fürchten, dass Sozialplanverhandlungen mit Freiheitsberaubung durch aufgebrachte Mitarbeiter enden oder damit, dass ihm, wie bei Air France geschehen, das Hemd vom Leib gerissen wird.

"Hier ziehen alle an einem Strang", schwärmt Christelle Coudoré nach einem Gespräch mit Siemens-Personalchefin Janina Kugel. Frankreichs Unternehmer hoffen, dass der derzeit umstrittene Reformplan der Regierung ihnen bald die Möglichkeit einräumt, nach deutschem Beispiel den Arbeitsrahmen ihrer Beschäftigten auf betrieblicher Ebene zu verhandeln. Das ganze, wenngleich etwas angegriffene deutsche Konsensmodell wollen sie dann allerdings doch nicht: Erbittert wehren sich die Arbeitgeber derzeit gegen einen Passus, demzufolge sie Änderungen der Arbeitszeiten in den Firmen mit Gewerkschaftern oder anderen Personalvertretern verhandelt werden sollen. "Unsere Gewerkschaften sind nicht konstruktiv, das klappt in Frankreich einfach nicht", sagt Christelle Coudoré. Das Verhältnis zur Belegschaft nach deutschem Vorbild pflegen? Geht doch nicht, sagen die Coudorés.

Damit liegen sie voll auf der Linie von Verbandschef Pierre Gattaz. Der ist kein geschniegelter Lobbyist, sondern ein etwas kauziger Familienunternehmer mit schiefer Körperhaltung, aber umso gradlinigeren Positionen. Schon sein Vater Yvon, Gründer des florierenden Luftfahrtelektronik-Herstellers Radiall, war Medef-Chef und lehnte allzu viele Zugeständnisse ab. In München sagt Pierre Gattaz: "Es ist ausgeschlossen, die Mitbestimmung nach deutscher Art einzuführen, solange wir solche Gewerkschaften haben." Im Übrigen gebe es in 85 Prozent der französischen Betriebe keine Gewerkschaftsvertreter - "und die Angestellten dort sind glücklich". In der Theorie will Gattaz "die wirtschaftliche Kultur Frankreichs verändern". In der Praxis schließt das die Kultur der Arbeitgeber aber nicht mit ein.

Tatsächlich muten die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten vormodern an: Sie sind bestenfalls paternalistisch geprägt - und im schlechtesten Fall durch Konflikt und Misstrauen. Das hat historische Gründe. Sie liegen in der Erfahrung der Gewerkschaften einer langen Repression im 19. Jahrhundert und dass sie meist nur mit radikalen Mitteln Verbesserungen erreicht haben. Und in dem Umstand, dass ein ideologisches Update wie die soziale Marktwirtschaft in Frankreich bis heute nicht angekommen ist. "Der Unterschied zu Deutschland liegt nicht im Inhalt der Arbeitsgesetze, er liegt in der Einstellung beider Seiten. Konfrontation ist die Gewohnheit", sagt Patrice Pélissier. Er muss es wissen, er hat den Vergleich. Pélissier führt als Manager den Mittelständler MEA. Begonnen hat er seine Karriere als Manager in französischen Konzernen.

Die Delegation sucht Pélissier bei MEA in Aichach auf. Die Fahrt dorthin führt vorbei an deutschen Institutionen wie OBI und an Schildern, die Eier von frei laufenden Hühnern anpreisen. Pélissier empfängt die Gäste mit Mousse au chocolat und Quarktaschen. Und beginnt sogleich die Arbeit als Kulturmittler - mit einem Vortrag über den Mittelstand, der in Deutschland mit 12000 Firmen dreimal so stark ist wie in Frankreich. Gattaz, die Coudorés und alle anderen hören gebannt zu. Pélissier erzählt von der tugendhaften Aversion der Mittelständler gegen die reine Renditelogik, von der Verankerung in der Familie und in einer Region. Aber er zeigt auch Schwächen auf. Spricht von der Schwierigkeit der Familienfirmen, sich zu erneuern. In einer sich rasant ändernden Welt sei das ein Handicap. "Das Modell", schließt Pélissier, "ist nicht mehr haltbar."

Wie bitte, das deutsche Modell nicht haltbar? Die Patrons schauen ungläubig. Dann sagt einer: "Das ist eine gute Nachricht, dann bekommen wir bald Kaufgelegenheiten in Deutschland!" Verbandschef Gattaz aber entgegnet: "Monsieur Pélissier, Sie kratzen am Mythos! Ich versichere Ihnen: Die Deutschen sind unheimlich stark." Gattaz braucht den Mythos noch. Für die Debatte zu Hause, in Frankreich.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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