Die Europäische Zentralbank (EZB) agiert seit der Euro-Krise im Krisenmodus. Nachdem ihr politisches Handeln durch die Staatsanleihenkaufprogramme virulente Reaktionen verursacht hat, versucht die EZB in der aktuellen Corona-Pandemie durch die Auflegung eines billionenschweren Pandemie-Notfallankaufprogramms erneut ihre Handlungsfähigkeit in den Mittelpunkt zu rücken. EZB-Präsidentin Christine Lagarde verkündete sogar auf Twitter, dass der Zentralbank zur Verteidigung des Euros keine Grenzen gesetzt sind.
Viele sehen darin den "Whatever-it-takes"-Moment von Lagarde. Mitten in der Euro-Krise hatte der damalige EZB-Präsident Mario Draghi angekündigt, dass die EZB alles tun werde, um den Euro zu verteidigen. Obwohl die EZB mit ihren Rettungsmaßnahmen damals die Währungsunion vor einem Auseinanderbrechen bewahrt hat, ist sie zur tragischen Heldin der Euro-Krise geworden. Für ihre Staatsanleihenkaufprogramme sah sich die Zentralbank mit Anschuldigungen wie Vertragsbruch, Mandatsüberschreitung, fehlende Legitimität, Intransparenz und mangelnde Rechenschaftspflicht konfrontiert. Ihr Wirken in der Troika-Konstellation, in der die EZB zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission Hilfsprogramme für die Euro-Krisenstaaten verhandelte und überwachte, führte zu Vorwürfen der Macht jenseits aller demokratischen Kontrolle und Forderungen nach mehr Rechenschaft für ihr Handeln. In der europäischen Bevölkerung verfestigte sich das Bild von Technokraten in dunklen Anzügen, die sich ohne demokratische Legitimation in die inneren Angelegenheiten von Staaten einmischen.
Die Infragestellung der Arbeit und der Expertenautorität der EZB innerhalb der Bevölkerung, in den Krisen- aber auch in den Geberländern (vor allem in Deutschland und in den Niederlanden), führte zu einer starken Politisierung der Zentralbank. Damals hatte die EZB politische Führungskraft gezeigt, hat die "Schmutzarbeit" für die Staaten der Eurozone übernommen und somit den Euro gerettet.
Dies hatte allerdings die unbeabsichtigte Folge einer langwierigen juristischen Auseinandersetzung über die Frage, ob die EZB ihre Zuständigkeiten und Kompetenzen überschritten hat. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihenkauf in der Euro-Krise der EZB stellt einen weiteren Höhepunkt der Kontroverse dar. Die EZB wird aufgefordert, bei künftigen Programmen die Verhältnismäßigkeit zwischen dem währungspolitischen Ziel der Preisstabilität und den wirtschaftspolitischen Auswirkungen von Staatsanleihekaufprogrammen (zum Beispiel Nullzinsphase) zu prüfen und zu begründen. Obwohl der Bundestag bereits die Anforderungen an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Anleihekaufprogrammes PSPP durch die EZB als erfüllt ansieht, und die Zentralbank sich in der Euro-Krise freiwillig in ein Korsett von zusätzlichen Rechenschaftsmechanismen begeben hat, muss sie auf diese zunehmende Differenzierung von Akteuren, die das Handeln der EZB in Frage stellen, reagieren und der Politisierungsdynamik seit der Krise mit einer Informationsoffensive entgegentreten.
Die Corona-Krise bietet der EZB nun die Möglichkeit, sich von der Rolle der tragischen Heldin zur krisenerprobten Managerin sowie als verantwortungsvolle und reaktionsschnelle Notenbank neu zu positionieren. Eine Krisenintervention, die aus den Fehlern der Eurokrise gelernt hat, wäre eine angemessene Prävention einer erneuten Legitimationsdebatte. Dies soll kein Selbstzweck sein oder die Unabhängigkeit der EZB gefährden, sondern sie muss die Konfrontation mit der zunehmenden Politisierung ihres Handelns suchen, um mit Hilfe einer neuen Krisenbewältigungspolitik sowie einer verbesserten und angepassten Kommunikationsstrategie im digitalen Zeitalter eine angemessene Antwort auf die Forderungen nach mehr Rechenschaft für ihr Tun zu geben.
In der Euro-Krise hat die EZB immer wieder den Fehler gemacht, sich darauf zu berufen, dass sie formal gesehen nur gegenüber den europäischen Institutionen - der Eurogruppe, dem Europäischem Parlament und dem Europäischen Gerichtshof - rechenschaftspflichtig sei. Es ist zwar verlockend jegliches Handeln der EZB mit Verweis auf ihre politische Unabhängigkeit zu legitimieren, aber in der heutigen Zeit nicht mehr ausreichend, da eine formale und informelle Rechenschaftspflicht besteht. Es gibt zwei Wege, die der EZB helfen könnten, die Akzeptanz ihrer Entscheidungen sowie das Vertrauen in ihre Expertise zu erhöhen: Rechenschaftspflicht durch Kontrollierbarkeit von nationalen Parlamenten und Erhöhung der Transparenz und Ansprechbarkeit.
Auch wenn die Unabhängigkeit der EZB gewahrt bleiben muss, Autonomie kann mit Rechenschaftspflicht gegenüber nationalen Parlamenten einhergehen. Nationale Zentralbanker als Mitglieder des EZB-Rats könnten beispielsweise in nationale Parlamente geschickt werden, um Rechenschaft abzulegen, ähnlich dem währungspolitischen Dialog der EZB mit dem Europäischen Parlament. Auch wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts schon dazu geführt hat, dass der Präsident der Deutschen Bundesbank regelmäßig die Maßnahmen der EZB im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages erläutern wird, sollte Rechenschaft gegenüber den nationalen legislativen Organen die Regel und nicht die Ausnahme sein.
Eine stärkere Interaktion mit den Parlamenten sollte mit einer verbesserten und verständlichen Kommunikation an die Öffentlichkeit einhergehen, mit minimalem Fachjargon. Eine konkrete Maßnahme könnte zum Beispiel darin bestehen, die wörtlichen Protokolle nach jeder EZB-Ratssitzung und die genauen Abstimmungsergebnisse zu veröffentlichen. Ein zweites mögliches Instrument zur Verringerung der Kluft zwischen Bürgern und Notenbankern und somit zur Verbesserung der Ansprechbarkeit wäre eine verständliche Kommunikation der EZB mit der breiten Öffentlichkeit durch eine Erweiterung der Kommunikationsformen, zum Beispiel eine stärkere Nutzung sozialer Medien.
Nur wenn es der EZB gelingt, mehr Rechenschaft in Form von mehr Kontrollierbarkeit, Transparenz und Ansprechbarkeit für ihr Handeln abzulegen, kann sie langfristig die Akzeptanz für ihre Entscheidungen steigern und somit ihr Überleben sichern. Wenn dies gelingt, wird sie aus beiden Krisensituationen gestärkt hervorgehen. Dies setzt aber auch voraus, dass, im Gegensatz zur Euro-Krise, die EU-Mitgliedstaaten diesmal die Krisenbewältigung nicht auf die EZB abwälzen.