Die Qualifikations- beziehungsweise Bildungsstruktur der heimatvertriebenen Asylsuchenden ist äußerst heterogen. Wer aufgrund des Asylrechts bleiben darf, wird aus guten Gründen eben nicht durch arbeitsmarktpolitische, sondern durch humanitäre Erwägungen selektiert. Dennoch werden wir die zu uns kommenden Menschen auch in die Erwerbsgesellschaft integrieren müssen, wenn "wir es schaffen" wollen. Fast 29 Prozent der Personen, die im ersten Halbjahr 2015 in Deutschland einen Asylantrag stellten, waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die zu gut qualifizierten Fachkräften ausgebildet werden könnten. Um das Potenzial der vielen leistungsfähigen Kinder und Jugendlichen unter den Flüchtlingen zu nutzen, wird man sich allerdings nur in den wenigsten Fällen auf Anfängersprachkurse und kurzfristige Einstiegshilfen beschränken können.
Vielmehr werden bedeutende bildungspolitische Anstrengungen erforderlich sein, um den besonderen Umständen fremdsprachlicher Menschen aus anderen Kulturkreisen gerecht zu werden. Gelingt es unseren Schulen, allen Kindern und Jugendlichen Chancen zu erschließen, ihrem Bildungspotenzial und Ehrgeiz gemäße Abschlüsse zu erzielen, werden die Menschen mittelfristig auch in die Lage versetzt, nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern tatsächlich auch einen Teil der Probleme unserer alternden Gesellschaft abzufedern. Die auf freiwilligen Angaben beruhenden Befragungsergebnisse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vermitteln eine grobe Idee der Herausforderungen: Von den zwischen Januar und August 2015 befragten Asylsuchenden über 20 Jahren gaben 16,6 Prozent an, eine Universität oder Fachhochschule besucht zu haben, 17,5 Prozent ein Gymnasium und 29,7 Prozent eine Mittelschule. Immerhin fast ein Drittel gab an, keine oder nur eine Grundschule besucht zu haben. Der Großteil der Schutzsuchenden spricht kein Deutsch, einige sind nicht mit dem lateinischen Alphabet vertraut. Die meisten Zuwanderer werden dennoch schnell in der Lage sein, ihren Alltag zu bewältigen und einfache Tätigkeiten auszuüben. In solchen Tätigkeiten konkurrieren sie jedoch mit vielen anderen Arbeitssuchenden um eine geringe Anzahl freier Stellen.
Deutliche Zuwächse in unqualifizierter Beschäftigung sind spätestens mit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nicht mehr zu erwarten. Zudem führen unqualifizierte Tätigkeiten selbst in Vollzeit nicht verlässlich aus der Armutsgefährdung hinaus. Um den Zuwanderern qualifizierte Berufe zu erschließen, braucht es jedoch weitaus größere Anstrengungen in der Bildungspolitik. Denn bisher ist unser Schulsystem nicht gut auf Schüler mit anderem kulturellen und fremdsprachlichen Hintergrund vorbereitet.
Deutschland hat seit Jahrzehnten verschlafen, auf die Zuwanderung systematisch zu reagieren
Laut Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Migration vom Oktober 2014 sind ausländische Schüler noch immer weit überrepräsentiert in den Hauptschulen (27,5 Prozent der ausländischen Schüler gegenüber 10,6 Prozent der deutschen Schüler) und bei denjenigen, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen (11,6 Prozent gegenüber 5,4 Prozent). An Gymnasien sind sie ebenso deutlich unterrepräsentiert (24,5 Prozent gegenüber 48,9 Prozent). Doch die Herausforderung birgt auch große Chancen: Im Zuge der jetzt erforderlichen Maßnahmen könnten Strukturen entstehen, die nicht nur das Bildungspotenzial der Flüchtlinge erschließen, sondern auch die Chancen für alle Kinder und Jugendlichen mit ähnlichen Problemen erhöhen.
Deutschland hat seit Jahrzehnten verschlafen, auf die Probleme der Zuwanderer systematisch zu reagieren. Die mangelhafte Anpassung unseres Bildungssystems trifft nicht nur aktuell zuwandernde Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Dasselbe gilt für viele Kinder deutscher Aussiedler aus Russland und für türkischstämmige Jugendliche, für die Kinder der Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie für die Kinder der Arbeitsmigranten aus Rumänien und Bulgarien.
Laut Mikrozensus 2012 wies jedes dritte in Deutschland lebende Kind unter 15 Jahren einen Migrationshintergrund auf. Für sie alle erwachsen Chancen aus der aktuellen Herausforderung, die eine mediale und politische Aufmerksamkeit für die Erfordernisse schafft.
Es erscheint unerlässlich, möglichst frühzeitig mit einführenden Sprachkursen zu beginnen und zugleich zu ermitteln, über welche Bildungsabschlüsse und Berufserfahrungen die ankommenden Flüchtlinge verfügen, welche Sprachkenntnisse sie mitbringen und welche besonderen persönlichen Begleitumstände berücksichtigt werden müssen. Viele Asylsuchende sind voller Tatendrang, hoch motiviert und fest entschlossen, ihre Chancen wahrzunehmen. Eine zu lange Untätigkeit führt häufig zu Resignationseffekten sowie in eine lethargische Haltung, aus der sich nicht jeder wieder zu befreien weiß. Das Land ist aus seinem einwanderungspolitischen Dornröschenschlaf erwacht, vieles wird in diesem Sinne tatsächlich bereits in Angriff genommen.
Um die Chancen zu nutzen, die die Zuwanderung gebildeter oder bildungsfähiger Zuwanderer eröffnen, gilt es aber, geeigneten Kandidaten viel mehr als nur einen Spracheinstieg zu vermitteln.
Hier geht es um Sprach- und Kultur-Kenntnisse, die für höhere Schulbesuche, Ausbildungen, Studium und qualifizierte Tätigkeiten erforderlich sind. Dazu sind langjährig begleitende Kurse und Unterstützungsangebote zur allgemeinen Sprachförderung sowie vorübergehende Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs erforderlich. Für Schüler, die im Elternhaus keine hinreichende Unterstützung zur Erledigung der Hausaufgaben erfahren, müssen außerdem Angebote einer qualitativ hochwertigen Hausaufgaben- und Lernzeitenbetreuung geschaffen werden.
Ein solcher Kraftakt erfordert selbstverständlich eine entsprechende Ausstattung der Schulen mit Lehrkräften und Ressourcen. Aber Deutschlands Sonntagsredner wurden nie müde, von der Bedeutung guter Bildung zu sprechen, und die wirtschaftliche Lage ist ausgesprochen gut. Wir schaffen das. Wenn wir wollen.