Forum:Mobilität neu denken

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Der öffentliche Personennahverkehr muss sich für andere Angebote öffnen, um neuen Bedürfnissen in Stadt und Land gerecht zu werden. Sonst läuft er Gefahr, in der digitalen Welt von morgen zu verschwinden.

Von Daniel Dettling

Die Städte werden zu Treibern der vernetzten Mobilität. Der Verkehr von morgen wird durch Daten und Algorithmen bestimmt. Die zunehmende Digitalisierung und eine neue mobile Bewegung fordern insbesondere den öffentlichen Nahverkehr heraus. Neue Player stehen bereit. Entsteht ein "Amazon der Mobilität"?

Die deutschen Städte erleben eine stille Revolution ihrer Mobilität. Als erste Stadt hat Hamburg in diesem Jahr Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge verhängt, im nächsten Jahr folgt nach einem Gerichtsurteil Berlin. Weitere Städte werden nachziehen. Im neuen Berliner Mobilitätsgesetz findet das Auto als Verkehrsmittel kaum noch statt. Stuttgart will seine Innenstadt "autofrei" machen. Europäische Städte wie Kopenhagen, Wien, Zürich und Malaga machen es seit Jahren vor. Dort ist die Transformation einer smarten Mobilität gelungen - mit den Bürgern und nicht gegen sie.

Weltweit leben bald drei Viertel der Menschen (75 Prozent) in Städten. Die Städte sind die Ursache für die meisten Unfälle und den höchsten Ausstoß von schädlichen Emissionen. Nach Berechnungen des Max-Planck-Instituts für Chemie sterben allein in Deutschland jährlich 7000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung durch den Straßenverkehr, doppelt so viele wie bei Verkehrsunfällen. Weltweit ist die Zahl um ein Vielfaches höher.

Das Umweltbewusstsein der Bürger nimmt zu. Drei Viertel der Deutschen fühlen sich heute durch Autoabgase belästigt. Die Städter wollen eine neue Mobilität: bequem, günstig, schnell und sauber. Es geht ihnen nicht um Ideologie, sondern um eine bessere Lebensqualität. Das Auto, lange Zeit ein Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit und des sozialen Status, hat seine Vormachtstellung in den Städten verloren, weil es seine eigentliche Funktion immer weniger erfüllt: Angenehm und schnell von A nach B zu kommen gelingt mit dem Auto angesichts überfüllter Straßen und knapper Parkmöglichkeiten immer weniger.

Für Deutschlands Städte und ihre Verkehrsverbünde sind das eigentlich goldene Zeiten. Doch der Marktanteil der Busse und Bahnen am Personenverkehr beträgt heute nur 13 Prozent. Eine neue Studie des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sieht erhebliches Potenzial für die Zukunft. Danach könnte der Marktanteil des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) bis 2030 um fast ein Drittel wachsen. Warum nur um ein Drittel? In der Schweiz fahren längst mehr Menschen mit Bus und Bahnen. Dem deutschen ÖPNV und seinen Befürwortern in der Politik fehlt es an einer Vision und damit einer Strategie für die Mobilität 4.

Beim Radverkehr ist Deutschland ein Entwicklungsland

0. Der öffentliche Personennahverkehr kann zum wichtigsten Mobilitätsplayer werden, wenn er sich als "Individueller Öffentlicher Verkehr" (IÖV) definiert und dabei auf die Megatrends Digitalisierung, Individualisierung und urbanes Lebensgefühl setzt. Voraussetzung ist ein offener Mobilitätsmarkt. Marktneulinge wie Car- und Ride-Sharing, Uber, autonome Fahrsysteme wie Mytaxi und bald auch Flugtaxis sind keine Konkurrenten, sondern Mitstreiter einer neuen urbanen und digitalen Mobilität. In Helsinki müssen seit diesem Jahr alle Unternehmen aus dem Verkehrssektor ihre Daten veröffentlichen. Taxiunternehmen, Bahn, Häfen und Bahnhöfe stellen ihre Daten zu Fahrplänen, Tarifen und Leistungen ins Internet. Die kollektive künstliche Intelligenz soll den Verkehr in Zukunft verbessern. Der digitale Deal: Alle steuern ihre Daten bei, und die Städte und die Unternehmen entwickeln daraus optimale Services.

Öffnen sich die öffentlichen Verkehrsbetriebe nicht, werden sie weiter an Anteilen und Akzeptanz verlieren. In New York sind die Marktanteile von Bussen und Bahnen zuletzt gesunken, weil die Bewohner individuell auf sie zugeschnittene und flexible Angebote vorziehen. In Norwegen steigen immer mehr von den Öffentlichen auf Elektroautos um. Der staatlich geförderte Kauf von E-Autos hat dort dazu geführt, dass Busse und Bahnen bei der Verkehrsmittelwahl drastisch verloren haben.

Die große Koalition will bis 2022 mehr Geld in den öffentlichen Nahverkehr investieren. Die Mittel werden auf eine Milliarde Euro verdreifacht. Das klingt viel, ist aber angesichts der anstehenden digitalen Transformation zu wenig. Allein der Ausbau der in vielen Städten überalterten Infrastruktur wird mehr Geld kosten. In den Städten und Ballungsräumen müssen die Takte verdichtet und zusätzliche Angebote geschaffen werden. Beim Radverkehr ist Deutschland ein Entwicklungsland. Für den ländlichen Raum braucht es flexible, verlässliche und individuelle Geschäftsmodelle. Tarifsysteme und Ticketvertrieb sind zu kompliziert und kaum untereinander vernetzt.

Gemessen an den Zahlen sind die Verkehrsverbünde in Deutschland eine Macht. Pro Jahr kommt der öffentliche Nahverkehr auf mehr als zehn Milliarden Fahrten - eine Zahl, die höher liegt als die der gesamten Weltbevölkerung. Der Wert der damit verbundenen Nutzerdaten wird in Zeiten von Big Data und künstlicher Intelligenz in Zukunft enorm steigen. Das hat auch Uber erkannt. Die Ankündigung des neuen Uber-Chefs, das "Amazon der Mobilität" zu werden, ist eine Kriegserklärung an den öffentlichen Verkehrssektor. Mit einer eigenen App sollen Verkehrsmittel - angefangen von Elektrofahrrädern bis hin zu den öffentlichen Verkehrsmitteln - genutzt werden. Amazon begann mit dem Verkauf von Büchern und ist heute das wertvollste Unternehmen der Welt. Uber startet jetzt in Deutschland nicht mit Taxis, sondern mit Elektrofahrzeugen und gibt sich grün. "Uber Green" ist in Europa unter anderem schon in Lissabon, Zürich, Budapest und Paris tätig. Berlin und München sollen bald folgen. In fünf Jahren soll es dann die ersten Flugtaxis geben. Wer E-Rad oder E-Auto fährt oder sich in der Luft fortbewegt, wird Busse und Bahnen nicht mehr brauchen, so das Geschäftskonzept.

Die Debatte um Dieselfahrverbote zeigt: Die Partnerschaft zwischen Städten und Autos ist überholt. Die deutschen Städte und ihre Verkehrsverbünde müssen rasch innovative Antworten finden, wenn sie in Zukunft noch relevant sein wollen. Sie werden ihr regionales Besitzstandsdenken aufgeben und ihre Dienstleistungen konsequenter an den Bedürfnissen der Kunden ausrichten müssen. Aus ÖPNV und individuellem (Auto-)Verkehr wird ein individueller öffentlicher und nachhaltiger Massenverkehr. Seine Visionen sind Staufreiheit, null Emissionen und mehr Komfort und Lebensqualität für alle Städter.

© SZ vom 29.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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