Forum:Fahrt ins Ungewisse

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Peter-Tobias Stoll lehrt als Jean-Monnet-Professor Völkerrecht und internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Göttingen. Er ist zudem Direktor am dortigen Institut für Völkerrecht und Europarecht. (Foto: privat/oh)

Ohne Austrittsabkommen stehen die EU und Großbri­tannien vor einer historischen Aufgabe. Den Briten drohen erhebliche Risiken.

Gastbeitrag von Peter-Tobias Stoll

Wie vor Kurzem gemeldet wurde, werden Schiffe von britischen Häfen aus manche ferne Destinationen erst nach dem Brexit erreichen. Wie die Ladung dann verzollt wird, ist ungewiss. Schiffe auf ungewisser Fahrt, ein passenderes Bild für den Stand des Brexit lässt sich kaum denken. Kurs halten auf ein unbestimmtes Ende hin - kennzeichnet das auch die Londoner Politik? In der deutschen Wirtschaft mehren sich jedenfalls die Stimmen, die einem Ende mit Schrecken den Vorzug geben. Ohne Aussicht auf Klarheit verlängert auch die jüngst diskutierte Verschiebung der Trennung zum 29. März nur die Fahrt ins Ungewisse.

Das schon so lange im Raum stehende Austrittsabkommen ordnet institutionelle und finanzielle Folgen. Es hilft auch denjenigen, die sich im Vertrauen auf die europäische Integration auf der jeweils anderen Seite des Kanals eingerichtet haben. Dass es nicht schon lange abgeschlossen wurde, liegt an dem Backstop. Hinter der Chiffre verbirgt sich der Wunsch, an der Grenze auf der irischen Insel alles beim Alten zu belassen, wo sich doch sonst alles ändern soll. Das politische London möchte hier nachverhandeln, was in Brüssel nicht auf Gegenliebe stößt.

Der Brexit ist ein Lernprozess, in dem die Brisanz der Irlandfrage erst spät klar wurde. Vielleicht, weil die Grenzlinie zwischen Nordirland und Irland kaum mehr sichtbar ist? Dass diese Grenzlinie heute nicht auffällt, ist das Verdienst einer Einigung der Parteien im Nordirlandkonflikt, die unter dem Namen Karfreitagsabkommen bekannt geworden ist. Darin steht, dass eine harte Grenze vermieden werden muss. Aber das Abkommen erwähnt auch, wer den irischen Frieden erst möglich gemacht hat: die Europäische Union, die mit Binnenmarkt und Grundfreiheiten den Verzicht auf eine Grenze mit Grenzkontrollen ermöglichte. Nicht nur das: Viele Millionen europäischer Fördergelder haben den Friedensprozess unterstützt.

Aber wie soll die irische Grenze offen bleiben? Mit seinem Austritt aus der EU wird das Vereinigte Königreich mitsamt Nordirland zum Drittland. Die Regeln der WTO gelten wieder, und es sind Zölle zu erheben. Die dafür notwendigen Kontrollen der Einfuhr von Waren lassen sich nicht mit dem gegenseitigen Verzicht auf Zölle vermeiden, wie er sich in vielen Freihandelsabkommen findet. An der irischen Grenze könnten die britischen Container zwar durchgewunken werden. Waren, die über britische Häfen aus aller Welt ankommen, müssten aber immer noch verzollt werden. Das ließe sich nur vermeiden, wenn überall die gleichen Zölle und Einfuhrbedingungen gälten. Das gewährleistet eine Zollunion - mit der aber alle Hoffnungen der Brexiteers auf eine neue Selbständigkeit im Außenhandel schwinden.

Abbauen könnte man die Schlagbäume damit immer noch nicht: Grenzen teilen nicht nur Zollgebiete, sondern gewährleisten auch Sicherheit. Kontrollen des Warenverkehrs dienen der Terrorismusabwehr, der Bekämpfung des Drogenhandels, der Kontrolle von Migration, dem Schutz vor schädlichen, umweltgefährlichen oder gefälschten Produkten und dem Schutz des geistigen Eigentums. Nach der Einführung der Zollunion vergingen in der EU mehr als zwanzig Jahre, bevor die Mitgliedstaaten bereit waren, auf Kontrollen an der Grenze zu verzichten. So lange dauerte es, bis mit dem gemeinsamen Binnenmarkt, gemeinsamen Regelungen, funktionsfähigen Institutionen und Verfahren ein tragfähiges Regelungsumfeld geschaffen war, das diesen Verzicht erlaubte.

Hilft das Austrittsabkommen hier weiter? Zunächst schafft es eine Übergangszeit bis Ende 2022. Wenig Zeit für ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, dessen Gelingen deswegen weithin bezweifelt wird. Für diesen Fall sieht das Austrittsabkommen den Backstop vor. Bis zu einer Einigung bleibt das Vereinigte Königreich danach gerade so weit an die EU gebunden, wie es nötig ist, um eine offene irische Grenze vertreten zu können. Dem dient zunächst die Zollunion, ohne die Waren aus Drittländern auf ihrem Weg in die EU an der irischen Grenze zollamtlich abgefertigt werden müssten. Darüber hinaus soll aber ein letztes Stück Binnenmarkt helfen, eine offene Grenze hinzunehmen.

In Großbritannien ist das kaum mehr als die Pflicht, im Umwelt-, Arbeit- und Sozialschutz nicht hinter das Erreichte zurückzufallen, um faire Wettbewerbsbedingungen zu erhalten. Dass dies für den Verbraucherschutz nicht gilt, ist bemerkenswert. Für Nordirland gelten andere und stärkere Bindungen. Insbesondere sollen zusätzlich die meisten europäischen Produktstandards gelten, um den kontrollfreien Übergang in die EU zu ermöglichen. Den Behörden in Nordirland wird vage eine europäische Kontrolle zur Seite gestellt, EU-Kommission und der Gerichtshof kommen notfalls in beschränktem Umfang zum Zuge. Demgegenüber muss sich das erwähnte Rückfallverbot für Umwelt-, Arbeit- und Sozialstandards in Großbritannien auf eine dort angesiedelte unabhängige Institution verlassen. Über allem wacht eine eigens eingesetzte gemeinsame Kommission, die auch einige der Regeln ändern kann. Im Streitfall kommt mit Einschränkungen eine Art Schiedsgericht zum Zuge, das auch den Europäischen Gerichtshof anrufen und Sanktionen verhängen kann.

Für die EU mit ihrer Sicherheitsverantwortung sind dies weitgehende und vage Zugeständnisse. Da sich keine wirkliche Lösung abzeichnet, steht zu befürchten, dass der Backstop von Dauer sein könnte. Das befürchten auch die Brexiteers, denen der Backstop als lästige Fessel gilt. Er ist eine unbequeme Erinnerung an die Verantwortung für den Frieden in Irland, die die ungeliebte EU so bequem mitgetragen hatte. Mit dem Backstop fordert die Europäische Union diese Verantwortung ein. Das gebietet die Solidarität mit Irland und ebenso der Friedensauftrag der Europäischen Union, den manche schon längst in die Geschichte verabschieden wollten. Noch größere Herausforderungen stellen sich, wenn sich - um im Bild zu bleiben - auf der Kommandobrücke des englischen Schiffs weiterhin die Offiziere gegenseitig beim Griff nach dem Ruder in den Arm fallen.

Ohne das Austrittsabkommen steht die EU vor einer historischen Aufgabe. Eine ungleich größere Herausforderung stellt sich für das Vereinigte Königreich. Es könnte mit seiner Abwendung von Europa die eigene Integrität gefährden. Im Karfreitagsabkommen ist nämlich ein Referendum über die Wiedervereinigung der Insel vorgesehen. Seine Durchführung wird in dem tendenziell EU-freundlichen Nordirland immer deutlicher gefordert.

© SZ vom 18.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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