Forum:Das Gift der Unsicherheit

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Großbritannien hat die Europäische Union verlassen. Jetzt beginnen die Probleme mit dem Brexit erst recht.

Von Marcel Fratzscher

Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), verweist in einer Diskussionsrunde auf den starken Rückgang der Reallöhne. (Foto: Daniel Naupold/dpa)

Wer dachte, das unsägliche Brexit-Drama habe mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union am 31. Januar 2020 ein Ende, wird sich getäuscht sehen. Denn nun beginnen erst die schwierigen und auch wirklich wichtigen Verhandlungen um die permanente Beziehung zwischen Großbritannien und der EU. Dieser Verhandlungsprozess dürfte genauso viel Drama und genauso viele Überraschungen mit sich bringen wie der Austrittsprozess in den letzten drei Jahren. Dabei muss die EU einen schwierigen Spagat bewerkstelligen: einerseits die eigenen Interessen wahren und andererseits Großbritannien als verlässlichen Partner für die Zukunft gewinnen.

Vieles deutet darauf hin, dass ein Freihandelsabkommen die Grundlage für die künftige wirtschaftliche und politische Beziehung darstellen wird. Wie genau dieses ausgestaltet werden soll, und ob es überhaupt realistisch ist, muss sich nun zeigen. Fakt ist, dass Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen durchschnittlich mehrere Jahre dauern. Auch wenn die EU viel Erfahrung hat, und man viel von bestehenden Abkommen, etwa dem mit Kanada, ableiten kann, ist der Zeitplan bis Ende 2020 unrealistisch und zu ambitioniert. Die Erfahrung mit den Brexit-Verhandlungen zeigt, wie komplex und schwierig eine Mehrheitsfindung sowohl in Großbritannien als auch innerhalb der EU ist. Eine Verlängerung der elfmonatigen Übergangsphase hat der britische Premierminister Johnson jedoch bereits ausgeschlossen. Auch die juristischen Hürden für eine solche Verlängerung wären hoch.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien und die EU Ende 2020 ohne ein Abkommen dastehen, ist daher sehr viel höher, als viele denken. Die wirtschaftlichen Kosten eines Scheiterns wären signifikant, auch für Deutschland. Denn ohne ein Abkommen wären die EU und Großbritannien nach globalen Regeln gezwungen, Zölle und Abgaben zu erheben und somit den Handel zu schwächen. Dies würde gerade eine offene Volkswirtschaft wie die deutsche hart treffen, denn mehr als fünf Prozent aller Exporte aus Deutschland gehen nach Großbritannien. Betrachtet man nur die Exporte der deutschen Automobilindustrie, liegt der Anteil sogar noch höher. Genauso schwer würde die Störung europäischer Wertschöpfungsketten wiegen, durch die wichtige Vorleistungen und somit Produktionsprozesse in vielen Branchen in Deutschland gefährdet sind.

Auch ohne ein Freihandelsabkommen könnte sich die EU mit Großbritannien langfristig arrangieren. Die Übergangskosten wären jedoch hoch. Denn die bereits bestehende Unsicherheit ist Gift für die Wirtschaft. Bereits in den vergangenen drei Jahren hat die Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Brexit der deutschen Wirtschaft knapp zehn Milliarden Euro an Kosten pro Jahr verursacht. Dies bedeutet, dass die deutsche Wirtschaft bisher schon um 0,8 Prozentpunkte weniger gewachsen ist als ohne Brexit. Dieser Verlust dürfte sich durch die weitere Unsicherheit in diesem Jahr im gleichen Umfang weiter erhöhen. Eine verlängerte Hängepartie und ein Scheitern des Abkommens dürfte somit die deutsche Wirtschaft in einer empfindlichen Zeit treffen, in der der globale Handel durch Handelskonflikte und geopolitische Konflikte ohnehin enorm geschwächt ist.

Die EU hat daher ein starkes Interesse an einem gütlichen Abkommen mit Großbritannien. Sie muss dabei jedoch einen schwierigen Balanceakt bewerkstelligen. Sie muss einerseits Großbritannien als verlässlichen Partner behalten. Andererseits darf sie den Briten nicht zu sehr entgegenkommen und muss ihren roten Linien treu bleiben. Daher sollte die EU ein sehr transparentes und einfaches Handelsabkommen anvisieren: eines, das zwischen dem Handel von Gütern und Dienstleistungen unterscheidet, weitergehende Ausnahmen und auch die sogenannte "regulatorische Äquivalenz" jedoch auf ein Minimum beschränkt. Denn die große Stärke der EU ist die Möglichkeit, regulatorische Standards zu setzen. Gleichzeitig darf sich die EU durch die Verhandlungen mit Großbritannien nicht von anderen Handelsabkommen abhalten lassen. Die zunehmenden globalen Handelskonflikte zeigen, dass die EU sich dringend stärker im globalen Wettbewerb behaupten und sich früher oder später mit den USA auf ein Freihandelsabkommen einigen muss. Denn nur EU und USA zusammen werden einem immer stärker werdenden China und einem Asien unter starkem chinesischem Einfluss langfristig Paroli bieten und die eigenen Interessen wahren können.

Genauso wichtig wird es sein, die EU durch den Brexit nicht zu schwächen. Zwar haben die Populisten, von Salvini bis Le Pen, ihre antieuropäische Rhetorik etwas gezügelt. Dies mag jedoch eher taktische Gründe haben, als dass sie Zeichen einer tatsächlichen Sinneswandlung sind. Großbritanniens Wirtschaft wurde und wird weiterhin durch den Brexit geschwächt. Trotzdem läuft die britische Wirtschaft relativ gut - vor allem im Vergleich zu Italien. Die Gefahr ist groß, dass diese Politiker, wenn sie denn an die Regierung kommen, sich Großbritannien und den Brexit als Vorbild nehmen und Europa weiter spalten.

Daher muss die EU interne Reformen weiter vorantreiben, um einerseits mehr wirtschaftliche Dynamik zu entfalten und sich andererseits der Polarisierung Europas und dem zunehmenden Nationalismus entgegenzustemmen. Auch in Deutschland ist ein gefährlicher antieuropäischer Populismus entstanden, wie die hoch emotionalen Diskussionen um den Euro und die Geldpolitik der EZB zeigen. Die Bundesregierung hat im zweiten Halbjahr mit dem EU-Ratsvorsitz die Chance, einen wichtigen Beitrag zur Einigung und zu Reformen der EU beizutragen. Zudem sollte die Bundesregierung beispielsweise den von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geplanten Green Deal unterstützen - auch durch zusätzliche Gelder. Darüber hinaus wäre es ratsam, dass die große Koalition auf eine Vollendung des Binnenmarkts für Dienstleistungen und der Banken- und Kapitalmarktunion pocht. Zudem muss die EU die soziale Polarisierung innerhalb Europas endlich stärker adressieren, um die Legitimität der gemeinsamen Politik zu verbessern.

Die Bedrohung durch den Brexit ist bei Weitem noch nicht bewältigt. Die Verhandlungen über die permanente Beziehung zwischen der EU und Großbritannien wird konfliktreich werden , und die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns ist real. Ein Abkommen wäre wichtig, darf jedoch nicht von der mindestens genauso großen Herausforderung ablenken, wie die EU sich reformieren und seine Legitimierung verbessern kann.

© SZ vom 03.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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