Forum:Anleihen für Europa

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Philipp Michael Hildebrand, 52, ist Schweizer Ökonom, Politologe und Vice Chairman des Vermögensverwalters Blackrock. Von 2010 bis 2012 war er Präsident der Schweizerischen Nationalbank. (Foto: OH)

Die EU sollte Kapital an den Märkten aufnehmen, um zum Beispiel Projekte für Infrastruktur und Sicherheit zu finanzieren.

Von Philipp Michael Hildebrand

Es fällt mir schwer, mich an eine Debatte zwischen der deutschen Öffentlichkeit und einer zentralen europäischen Institution zu erinnern, die mit ähnlicher Schärfe wie derzeit geführt wurde. Für das Projekt Europa ist das gefährlich. Die Zinssenkungen, welche die Europäische Zentralbank (EZB) am 10. März beschlossen hat, haben für viele Deutsche schmerzliche Folgen. Die Deutschen haben auch recht mit ihrem Einwand, dass die Maßnahmen der EZB ohne politische Unterstützung nicht die Lösung sein können.

Letztlich ist es ebenfalls richtig, dass die Geldpolitik der EZB unangenehme Nebenwirkungen hat. Das heißt aber nicht, dass sie im Kern falsch ist. Unter dem Strich ist sie - verglichen mit allen anderen Optionen - die bessere Alternative.

Die Empörung der Deutschen über die Politik der EZB ist nachvollziehbar, denn die Minizinsen schmälern den Ertrag aus ihren Ersparnissen immer weiter. Allerdings übersehen sie dabei zwei zentrale Punkte: Zum einen bringen Sparanlagen zurzeit weltweit - nicht nur in Deutschland - kaum etwas ein. Und selbst in Deutschland waren die Realzinsen aus Sparanlagen in den vergangenen 40 Jahren häufig niedriger als gegenwärtig, worauf Bundesbank-Präsident Jens Weidmann wiederholt hingewiesen hat. Mit ihrer Politik passt sich die EZB dieser Realität an, aber sie erzeugt sie nicht. Hätte die Zentralbank nicht entsprechend gehandelt, wäre die Euro-Zone wahrscheinlich erneut in eine Rezession zurückgeglitten. Und das würde den deutschen Sparern aller Voraussicht nach noch weniger Rendite auf ihre Spareinlagen bringen.

Zum anderen sollten wir nicht vergessen, dass eben diese niedrigen Zinsen es der Bundesregierung ermöglichen, früher als geplant einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen und die Schulden zu reduzieren - alles ohne Steuererhöhungen.

Zudem fußen die jüngsten Beschlüsse der EZB auf guten Prinzipien. Seit mehr als sieben Jahren wird die EZB ihrer wichtigsten Aufgabe, die Preisstabilität mit einer Inflation von nahe, aber unter zwei Prozent zu sichern, nicht gerecht. Es ist nicht realistisch anzunehmen, der EZB-Rat hätte sich von diesem Mandat einfach verabschieden können. In Wirklichkeit musste er seine Bemühungen verstärken. Richtig war auch, was die EZB im vergangenen Monat tat, um sich nicht auf einen Währungskrieg einzulassen, indem sie die Zinsen immer weiter ins Negative senkt.

Die Währungshüter werden ihre Ziele wohl auch in den nächsten zehn Jahren verfehlen

Die Maßnahmen der EZB waren zielgerichtet, um einen dauerhaften Zusammenbruch der Inflationserwartungen zu verhindern. Es ist eine Sache, die schwache und weiter fallende Inflation den sinkenden Ölpreisen zuzuschreiben. Doch auch die Kerninflation liegt deutlich unter dem Zielwert und fällt weiter. Zudem legen zur Zeit alle Kennzahlen zu den Inflationserwartungen nahe, dass die Währungshüter in Frankfurt auch in den nächsten zehn Jahren ihr Ziel wohl verfehlen werden. Würde die EZB zulassen, dass sich die Erwartungen auf dem aktuellen Niveau verfestigen, würde sie ihre Glaubwürdigkeit riskieren - und damit auch die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen.

Zudem werden die von der IG Metall ausgehandelten deutschen Lohnabschlüsse dieses Jahr womöglich niedriger ausfallen, obwohl der Arbeitsmarkt so gut ausgelastet ist wie seit mehr als 35 Jahren nicht mehr.

Einige sehen darin den Beweis dafür, dass die Maßnahmen der EZB nicht wirken. Das lässt aber die Frage außer Acht, was passiert wäre, hätte die EZB nicht gehandelt. Untersuchungen der Zentralbank legen nahe, dass die Euro-Zone ohne die bisherigen Maßnahmen mit einer ausgewachsenen Deflation zu kämpfen gehabt hätte. Deshalb sollte der EZB nicht vorgeworfen werden, ihre Anstrengungen erhöht zu haben. Natürlich könnte sie grundsätzlich auch etwas völlig Neues versuchen. Aber die vermehrt von angelsächsischen Ökonomen ins Spiel gebrachten Alternativen wie eine radikale Geldschwemme für die Haushalte - Stichwort "Helikoptergeld" - oder die monetäre Finanzierung von Haushaltsdefiziten sind mit Sicherheit fragwürdiger.

Die jüngsten Beschlüsse der EZB waren zudem gut konzipiert. So mussten die Zentralbanker den Spagat schaffen, Anreize für eine stärkere Kreditvergabe zu setzen, ohne die Gewinne der Banken zu schmälern. Zudem verringert entschlossenes Handeln in der aktuellen Situation das Risiko, an diesen - oder noch viel problematischeren - Maßnahmen noch länger festhalten zu müssen. Das ist wichtig, um negative Nebenwirkungen so gering wie möglich zu halten. Experten wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass dauerhafte Minizinsen einer Fehlallokation von Ressourcen Vorschub leisten und damit letztlich der Produktivität schaden. Mit entschlossenem Vorgehen dürfte es eher gelingen, die Inflationserwartungen in absehbarer Zeit zu drehen.

Selbst diese couragierten Maßnahmen werden aber kaum zum Ziel führen, wenn sie nicht von politischen Initiativen flankiert werden. Dabei gibt es noch etwas Wesentliches, das die EZB tun sollte - diesmal in ihrer Eigenschaft als Bankenaufsicht: Sie müsste die Banken noch mehr in die Pflicht nehmen, ihre Kapitalbasis zu stärken und ihre Bilanzen schneller von faulen Krediten zu säubern. Davon abgesehen kann kurzfristig nur die Fiskalpolitik der Nachfrage auf die Sprünge helfen. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat recht, wenn er einen fiskalischen Stimulus für Deutschland ablehnt, da das Wachstum im Land stark und die Produktionslücke geschlossen ist. Auf der anderen Seite gibt es Länder, die gerne auf Fiskalpolitik zurückgreifen würden, dies aber aufgrund ihrer steuerlichen Spielräume nicht tun sollten.

Eine mögliche Lösung: fiskalische Stimulusmaßnahmen auf EU-Ebene. Verschiedene europäische Stellen sind befugt, Kapital an den Märkten aufzunehmen. Diese Möglichkeit sollten sie nutzen und Anleihen zur Finanzierung von Projekten auflegen, mit denen der Konjunkturmotor heute und künftig zum Laufen gebracht werden könnte, und zwar überall in der EU.

Naheliegend sind Vorhaben im Bereich Infrastruktur sowie zur Verbesserung der Sicherheit im Sinne einer notwendigen gemeinsamen Sicherheitspolitik in Europa, wie sie auch von Professor Hans-Werner Sinn gefordert wurde. Aus politischer Sicht wäre das ein heikler Schritt, denn mit der Vergemeinschaftung von Schulden bräche man ein bestehendes Tabu. Aber wir leben in einer Zeit, in der überall an Tabus gerüttelt wird. Jetzt ist nicht die Zeit für rhetorische Angriffe auf die EZB, sondern für pragmatisches Handeln. Die EZB hat geliefert. Nun sind andere am Zug.

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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