Flüchtlinge:Chancen geben, Potenziale nutzen

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Gemeinsam lernen: Das Unternehmen Rittal will Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren. (Foto: oh)

Das Familienunternehmen Rittal bildet Flüchtlinge zu Fachkräften aus. Auch andere Unternehmen können nun von dem Pilotprojekt lernen.

Von Christiane Kaiser-Neubauer

Morgens um sechs Uhr betreten die Auszubildenden des Familienunternehmens Rittal die Werkstatt im hessischen Wissenbach. Mit dabei sind zwei Männer, deren bisheriger Lebensweg so ganz anders verlaufen ist als jener ihrer deutschen Kollegen. Khaibar Fatehzada aus Afghanistan und Eyobel Gebreyesus aus Eritrea. Die beiden 26-Jährigen kamen 2013 als Flüchtlinge in die Bundesrepublik und fanden in Unterkünften in Dillenburg eine Bleibe. Dank eines Pilotprojekts der Friedhelm Loh Group, Muttergesellschaft von Rittal, und des Lahn-Dill-Kreises zur Qualifizierung von Flüchtlingen konnten sie vor wenigen Wochen ihre Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer beginnen.

"Wir möchten den Flüchtlingen, die in Deutschland eine neue Heimat suchen, ein gutes Leben ermöglichen. Die Möglichkeit zu arbeiten und sich eine neue Existenz aufzubauen ist ein wesentlicher Bestandteil der Integration", sagt Friedhelm Loh, Vorstandsvorsitzender der Loh Group und Initiator des Projektes. Als mit 11 500 Mitarbeitern größter Arbeitgeber der Region sieht sich der Unternehmer in der Verantwortung, Flüchtlingen berufliche Perspektiven zu ermöglichen. Acht Flüchtlingen bot der Hersteller von Schaltschranksystemen ein Praktikum an. "Ich habe den Eindruck, dass die Flüchtlinge sehr froh sind, dass sie diese Chance hier bekommen haben. Sie sind sehr diszipliniert und ehrgeizig bei der Arbeit", sagt Matthias Hecker, Ausbildungsleiter bei Rittal.

"Es freut mich, dass wir Nachahmer für das Projekt gewinnen konnten."

Wichtige Erfahrungen sammelten auch seine Ausbildungsexperten und die Belegschaft. Sogenannte Azubi-Paten, die den acht Flüchtlingen während des Vorbereitungspraktikums zur Seite gestellt wurden, übten sich als Lehrende und übernahmen Mitarbeiterverantwortung. Nach dem Praktikum erhielten Khaibar Fatehzada und Eyobel Gebreyesus im Juli einen Ausbildungsvertrag bei Rittal. "Die Beschäftigung von Flüchtlingen bedeutet für einen Betrieb mehr Aufwand, aber er lohnt sich unterm Strich. Für uns ergibt sich mittel- und langfristig die Chance, gut ausgebildete Facharbeiter im Unternehmen zu haben und ihre persönliche Kompetenz im internationalen Geschäft zu nutzen", sagt Friedemann Hensgen, Vorstandschef der Stiftung Rittal Foundation und Koordinator des Projektes.

1974 übernahm Friedhelm Loh die Geschäftsführung von seinem Vater Rudolf Loh, und baute den Betrieb zum international tätigen Unternehmen aus. Heute ist Rittal mit 58 Tochtergesellschaften und 13 Produktionen weltweit vertreten und beliefert die Elektrotechnik-, IT- und Automobilbranche. Der Mittelständler fertigt nicht nur die Verteilerkästen der Telekom, auch das Europäische Zentrum für Kernforschung Cern in Genf setzt auf Schaltschränke von Rittal. Produkte, die nun bald auch von Fatehzada und Gebreyesus gebaut werden. Derzeit arbeiten die beiden mit ihren Kollegen im Grundlehrgang Metall an einem Klein-Lkw. Einmal pro Woche besuchen sie im Rahmen der dualen Ausbildung die Berufsschule in Dillenburg. Läuft alles nach Plan, werden die Azubis im Juni 2017 ihre Zeugnisse als ausgebildete Fachkräfte erhalten.

Probleme bereitet den Flüchtlingen häufig noch das notwendige Fachdeutsch. "Der Sprachkurs vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt den Flüchtlingen eine Basis für das tägliche Leben. Wenn sie allerdings in der Berufsschule eine Textaufgabe in Mathematik lösen sollen, schaffen sie es nicht. Es muss also allen klar sein, dass sie für berufs- und betriebsbezogene Themen mehr Unterstützung brauchen", sagt Hensgen.

Diese gibt es bei der Unternehmensgruppe Loh im Haus. Bereits während des Vorbereitungskurses unterrichtete eine Lehrerin der internen Weiterbildungseinrichtung die Flüchtlinge in Grammatik und technischer Kommunikation. "Es freut mich, dass wir Nachahmer für das Projekt gewinnen konnten. Es haben sich bereits einige Unternehmen gemeldet und nach unseren Erfahrungen und Tipps gefragt", sagt Loh. Zudem konnte ein weiterer Praktikant als Azubi an einen Betrieb vermittelt werden, zwei andere Teilnehmer bereiten sich derzeit auf den Hauptschulabschluss vor.

Größte Hürde für die Beschäftigung der Flüchtlinge waren die nur lückenhaft vorhandenen Informationen zu Arbeitserfahrung und Ausbildung. Auf Basis der Erkenntnisse der Initiative der Loh Group haben Kreis, Arbeitsagentur und Sozialamt gemeinsam ein Konzept erarbeitet, wie künftig von jedem Flüchtling ein Qualifikationsprofil samt Potenzialanalyse erstellt werden kann. Dank der Finanzierungszusage des Landes Hessen für diese Maßnahmen ist das Projekt "Chance Arbeitsmarkt" vor Kurzem im Lahn-Dill-Kreis und Landkreis Limburg-Weilburg gestartet. "Unternehmer, die sich engagieren wollen, müssen flexibel sein und in der Lage sein, kreativ zu reagieren. Was wir getan haben, kann ein großes Unternehmen leisten. Einen Handwerker würde das vermutlich überfordern", sagt Hensgen.

© SZ vom 29.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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