Finanzfrauen:Für Daten, gegen Dogmen

Lesezeit: 4 min

Im Studium war Nancy Stokey oft die einzige Frau im Hörsaal. Heute ist sie eine der wichtigsten US-Ökonominnen.

Von Kathrin Werner

Manchmal hat sie sich gefühlt, als sei sie aus Versehen in die Männerumkleidekabine gestolpert, sagt sie. Am Anfang ihrer Karriere war Nancy Stokey oft ziemlich allein. 1972, in "einer Zeit in der Nähe des Aussterbens der Dinosaurier und der Erfindung des Feuers", witzelt sie, hat sie ihren Abschluss in Volkswirtschaftslehre an der renommierten University of Pennsylvania gemacht. "In großen Vorlesungen gab es ein paar versprenkelte Frauen, in kleinen Kursen war ich oft die Einzige", erzählt sie. Je weiter fortgeschritten sie in ihrem Studium war, desto einsamer wurde es. "Wenn ich auf meine Karriere zurückblicke, war das bei Lehrstuhltreffen, Seminaren und Konferenzen manchmal schwierig und entmutigend."

Heute sei das anders, besser, sagt sie bei einer Rede vor jungen Studenten der University of Western Ontario in Kanada, die ihr einen Ehrendoktor in Rechtswissenschaften verliehen hat. "Frauen sind noch immer in der Minderheit, aber jetzt sind wir eine beachtliche Minderheit, nicht mehr eine winzige Gruppe."

Inzwischen sind gut ein Drittel aller neuen Doktoranden der Ökonomie Frauen. In ein paar Jahrzehnten, erwartet sie, wird auch ein Drittel aller VWL-Professoren weiblich sein. Die Veränderung brauche Zeit - und Vorbilder. "Um Chancengleichheit für Frauen zu erreichen, braucht man erst einmal eine kritische Masse, eine wesentliche Minderheit und nicht nur eine winzige Gruppe", sagt sie, die sich schon seit Jahrzehnten in verschiedenen Workshops für Frauenförderung einsetzt. "Für mich persönlich ist der Zuwachs von Frauen in den Wirtschaftswissenschaften eine der dramatischsten Veränderungen seit 1972."

Stokey, Jahrgang 1950, ist mittlerweile selbst eines dieser Vorbilder. An der Chicago School of Economics, die das volkswirtschaftliche Denken des 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflusste und prominente Vordenker wie Milton Friedman versammelte, lehrt sie seit 1990. Sie ist eine der einflussreichsten und forschungsstärksten Ökonominnen Amerikas. Was sie sagt und was sie schreibt, findet Gehör.

Die schlanke 64-Jährige mit der grauen Bobfrisur hat es zu ihrer Aufgabe gemacht, politische Schlagworte und Binsenweisheiten zu hinterfragen. Ihr Hauptthema ist Wachstum: Was verursacht Wirtschaftswachstum und wie lassen sich die Einflüsse auf das Wachstum belegen und auf andere, langsamer wachsende Länder übertragen? Seit Jahrzehnten ist es zum Beispiel ein Lieblingsthema vor allem von amerikanischen Konservativen, dass Steuersenkungen die Wirtschaft ankurbeln. In einem viel beachteten Aufsatz gemeinsam mit ihrem Kollegen Sergio Rebelo hat Stokey dies 1995 widerlegt: Eine Steuerreform hätte nur einen sehr kleinen oder gar keinen Einfluss auf die Wachstumsraten der Vereinigten Staaten, haben die beiden Wissenschaftler ermittelt. Stokey geht es darum, dass Politik auf nachvollziehbaren Daten und Modellen beruht, statt auf Ideologien.

Ihr Erfolg nahm freilich schon früher seinen Anfang: Das Werk "Recursive Methods in Economic Dynamics" hat sie 1989 zusammen mit ihrem Partner Robert Lucas verfasst. Es ist ein Standardwerk der Makroökonomie, es geht vor allem um Methodenlehre und mathematische Modelle. Kotaro Yoshida, ihr Kollege von der University of Chicago, nennt es "seine Bibel" und "den Goldstandard für makroökonomische Lehrbücher". Seit dieser Zusammenarbeit, schreibt der Nobelpreisträger Lucas in einer Autobiografie, sei ihre "Kollaboration eine rein häusliche". Das Paar hat eine Wohnung im Norden Chicagos und ein Sommerhaus am Lake Michigan. Die beiden fahren Fahrrad, wandern und beobachten Vögel - oder bringen ihre Laptops und ihre Arbeit mit.

Denn Stokeys Arbeit ist auch ihre Leidenschaft. Gerade hat sie sich ausgiebig mit den Entwicklungszielen der Vereinten Nationen befasst. Die UN hatten sich zum Jahrtausendwechsel acht Ziele vorgenommen, die die Welt bis 2015 erreichen soll, darunter das Ende von extremer Armut und Hunger. Die Welt war bereits enorm erfolgreich, sagt Stokey: Während im Jahr 1991 noch 811 Millionen Menschen in extremer Armut lebten, waren es 2013 noch 375 Millionen. Das Wachstum sei aber sehr ungleich verteilt. Während Indien und China boomten, entwickelte sich Afrika langsam. Aber warum? "Wir haben noch kein genaues Bild, wie man ein Land wachsen lässt", sagt sie. "Wir Ökonomen sehen verschiedene Indizien und setzen dann alle Anhaltspunkte wie Sherlock Holmes zusammen, damit sie eine Geschichte geben, die Wachstum erklären." Für sie sind der Hauptgrund für Wachstum neue Technologien, die die Wirtschaft effizienter machen.

Mit ihrer Arbeit trägt Stokey nun dazu bei, nicht nur Analysen im Nachhinein, sondern Hilfestellungen vorab zu liefern: In den vergangenen Jahren hat sie mit Forschung für das Copenhagen Consensus Center Schlagzeilen gemacht, einem Think Tank, der sich auf die Frage konzentriert, wie Regierungen am besten Geld ausgeben sollten. Gerade hat sie mit Kollegen die UN-Ziele für 2030 ausgewertet. Ihr Ergebnis: Wenn sich die UN auf die 19 ökonomisch sinnvollsten Ziele konzentrieren, statt das Geld auf die angepeilten 169 Ziele zu verteilen, könnte sie mehr erreichen. Würde das Entwicklungshilfe-Budget von 2,5 Milliarden Dollar für die 19 Ziele verwendet, betrüge der Gegenwert je investiertem Dollar 20 bis 40 Dollar. Bei einer größeren Streuung läge er bei nur zehn Dollar. Die besten Ergebnisse würde es bringen, das Geld dafür einzusetzen, die Unterernährung von Kindern zu bekämpfen und die Verbreitung von Malaria und Tuberkulose einzudämmen. Investitionen in sauberes Trinkwasser lohnen sich weniger. Die Entscheidung zwischen guten und wichtigen Zielen ist schwierig, aber ökonomisch sinnvoll. "Unsere Liste kann der UN helfen, ihre Entscheidung wie ein schlauer Einkäufer mit beschränkten Finanzen zu treffen", so die Wissenschaftler. Die UN wollen sich im September für neue Ziele entscheiden. Stokeys Ergebnisse beeinflussen die große Politik.

Eines der ökonomisch sinnvollsten Ziele für die UN wäre auch, für die Gleichstellung der Geschlechter in Wirtschaft und Politik zu kämpfen, sagen Stokey und ihre Kollegen. Frauen sollen sich nicht mehr fühlen wie sie zu Beginn ihrer Karriere: wie aus Versehen in der Männerumkleide.

© SZ vom 11.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: