Faymann-Rede:"Ein stärkeres Europa"

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Der österreichische Bundeskanzler über die Flüchtlingskrise und Freiheit. Die SZ dokumentiert Auszüge seiner Rede.

Von Werner Faymann 

Der Terror in Paris hat gezeigt, wie verletzbar unsere Gesellschaft ist. Die Antwort kann nur ein Zusammenrücken sein und gemeinsam den Kampf gegen Terrorismus aufzunehmen zur Verteidigung der Demokratie und der Freiheit. Die Gemeinschaft zu spalten, ist das Ziel der Terroristen. Daher haben wir das Gegenteil auszuarbeiten und vorzubereiten: Wie können wir enger in politischer, in gesellschaftspolitischer, aber auch in sehr konkreter polizeilicher Hinsicht etwa der Aufklärungsarbeit agieren? . . . Die europäische Gemeinschaft ist ein Teil der internationalen Gemeinschaft, die in der Verteidigung von Demokratie und Freiheit eine besondere Rolle zu spielen hat, eine, die auch gesellschaftspolitische Antworten in ihren eigenen Gesellschaften und Gemeinschaften zu geben hat. . . . Wer auf Segregation setzt in einer Gesellschaft, wer die Isolation Einzelner zulässt, wer Ghettos als unabdingbar in seinen Gesellschaften bezeichnet, steht nicht auf derselben Seite wie jene, die auf Integration, auf Armutsbekämpfung setzen. Viele sehr extreme oder religiöse oder nicht-religiöse gewaltbereite Gruppen brauchen als Nährboden diese Segregation und diese Isolation. Ihnen diesen Nährboden zu entziehen, ist eine gemeinsame Aufgabe Europas.

Besonders unverständlich finde ich es, Flüchtlinge und Terroristen in einen Topf der politischen Diskussion zu werfen. . . . Flüchtlinge sind Opfer, nicht Täter. Flüchtlinge sind Menschen, die nach dem Asylrecht, wenn sie dieser Gruppe nach der Genfer Konvention angehören, auch ein Recht darauf haben, dass Demokratien und Gesellschaften, die Freiheit und Menschenwürde propagieren, sich dann auch im Konkreten dafür einsetzen. . . . Am 4. September haben die deutsche Kanzlerin und ich die Entscheidung getroffen, Menschen, die aus Ungarn an die österreichische Grenze gekommen sind, medizinisch zu versorgen und ihnen etwas zum Essen zu geben. Dafür war es notwendig, den Grenzbalken zu öffnen. Viele wollen uns im Rückblick weismachen, dass es auf der anderen Seite eines imaginären oder tatsächlichen Zaunes besser wäre, die Flüchtlinge fernzuhalten, damit man sich dann quasi per Mundpropaganda erst gar nicht traut, so weit zu kommen. Dies . . . hätte eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Bilder vor den Zäunen in Mazedonien, aber auch vor dem Stacheldraht in Ungarn haben gezeigt, dass Menschen, die mehr als 2000 Kilometer alleine seit der griechischen Grenze zu Fuß zurückgelegt haben, nicht aufzuhalten sind, indem man ihnen irgendeine Erklärung abgibt. Nein, es hätte polizeilicher oder militärischer Gewalt bedurft. Eine Gesellschaft, die Werte der Freiheit, des Asylrechts, eines Menschenrechts, hochhält, die auch nie zurückschreckt, andere auf der Welt darauf hinzuweisen, wie sie ihre Menschenrechte wahrnehmen sollen, kann keine humanitäre Katastrophe anrichten.

. . . Es wäre Sand in die Augen der Bevölkerung Europas zu streuen zu glauben, dass man eine Flüchtlingskrise dadurch löst, in dem wir Kontrolleinrichtungen zur Beseitigung ihrer Ursachen einsetzen. Kontrolle braucht man, weil sie eine andere Funktion in unserer Ordnung erfüllt, eine aus meiner Sicht unbestritten notwendige, um die Kriminalität zu bekämpfen, das Schlepperunwesen zu bekämpfen, und man muss wissen, wer ins Land kommt. . . . Das aber soll uns nicht den Blick trüben, bedeutet nicht einen Flüchtling weniger. Hier müssen wir an die Wurzel gehen.

. . . Wir müssen uns der Frage widmen, wie leben denn jene Menschen, die gar nicht vorhatten, ihr Leben in Österreich oder Deutschland zu verbringen, sondern die . . . in der unmittelbaren Region geblieben sind. . . . Eine Begrüßungsrede ist viel zu kurz, dass schwierige Verhältnis der Europäischen Union und der Türkei in allen Facetten zu beleuchten. Es ist natürlich weder eine einfache noch eine einfach zu versprechende Lösung möglich. . . . Wir wollen politische und finanzielle Möglichkeiten einsetzen, dass Flüchtlinge in der Türkei auch arbeiten können und so behandelt werden, dass es der Menschenwürde entspricht. Wir können nicht sagen, das soll die Türkei allein machen. . . . Ich sehe in der Zusammenarbeit mit der Türkei eine Schlüsselfrage, die in diesen Stunden nicht gelöst ist.

. . . Das ist eine ganz große organisatorische und politische Aufgabe, die nur lösbar ist, wenn wir als Europäische Union das gemeinsam organisieren, finanzieren und natürlich mit Griechenland oder Italien, den betroffenen Ländern, vereinbaren.

. . . Es wird doch niemand glauben, dass Zäune ausreichen, um ein Flüchtlingsproblem wirklich zu beseitigen. . . . Ich bin davon überzeugt, dass wir von Wirtschafts- und Sozialpolitik, von Flüchtlingsfragen bis hin zu Sicherheitspolitik kein einziges Thema finden, wo jene Recht haben, die auf hohe Mauern um das eigene Land setzen, . . . auf Abschotten, auf Ausgrenzen setzen. . . . Ich bin davon überzeugt, dass . . . die Bevölkerung Europas nur dann Vertrauen in die Politik der Zukunft hat, wenn Politiker auch den Mut haben auszusprechen, dass sie mit nationalen Lösungen gegen den Nachbarn keine Chance haben zur Bewältigung all dieser Aufgaben. Wir brauchen ein stärkeres Europa, um das, was wir aus dem vorigen Jahrhundert gelernt haben zu vermeiden, den Frieden zu sichern und wirtschaftlich das zu schaffen, was wir Wohlstand nennen als Voraussetzung für Freiheit und Demokratie.

© SZ vom 20.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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