Familien-Verlag:Reclams Retter

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Reclam-Geschäftsführer Wolfgang Kattanek hat für die Gäste des Geburtstagsfestes im Stuttgarter Literaturhaus einen gelben Teppich aus Reclam-Heften ausgelegt. (Foto: Martin Krondorfer)

Der Jurist Wolfgang Kattanek kam 2014 als Seiteneinsteiger zum kriselnden Verlag mit den gelben Heftchen. Wie er das Unternehmen aufräumte und rechtzeitig zum 150. Geburtstag wieder auf Erfolg trimmte.

Von Stefan Mayr, Stuttgart/Ditzingen

Über die richtige Art des Bücher Verlegens könnte man dicke Streitschriften verfassen mit guten und schlechten Beispielen. Doch wie der Reclam-Verlag das vergangenes Wochenende im Stuttgarter Literaturhaus vormachte, da muss man erst einmal draufkommen: Ein Teil des Foyers war mit den berühmten gelben Reclam-Heftchen ausgelegt. Die Gäste zum 150. Geburtstagsfest der Philipp Reclam jun. Verlag GmbH betraten den Saal also über einen knallgelben Papierteppich. So mancher Schwabe rümpfte da die Nase und roch Geldverschwendung und Kulturfrevel.

Doch Reclam-Geschäftsführer Wolfgang Kattanek konnte die Partygesellschaft beruhigen: "Wir sind halt bodenständig", sagte er, "und wer unsere Bücher mit Füßen tritt, tut das ganz, ganz vorsichtig". Wer mag es dem 49-jährigen Hamburger verdenken, dass er seinen Erfolg auch ein kleines bisschen zeigen will?

Die hauseigene Druckerei wurde stillgelegt, die Kantine geschlossen

Als er im August 2013 erstmals im Verlagshaus vor den Toren Stuttgarts erschien, steckte der Verlag mit den vielfarbigen Büchern in tiefroten Zahlen. Der promovierte Jurist und Unternehmensberater analysierte im Auftrag der Gesellschafter-Familie Reclam die Zahlen und zeigte den Nachfahren des Verlagsgründers Anton Philipp Reclam den Weg aus der Krise. 2014 stellten ihn die Reclams dann als Geschäftsführer ein. Und Kattanek räumte kräftig auf. Die hauseigene Druckerei wurde stillgelegt, die Kantine geschlossen, unter dem Strich wurde das Personal von 100 Mitarbeitern auf 50 halbiert. "Wir haben Herrn Kattanek viel zu verdanken", sagte Anja Reclam-Klinkhardt vor der Festgemeinde im vollbesetzten Literaturhaus. Er habe das Haus durch "schwierige Zeiten" hindurchgeführt, lobte die Vorsitzende der Gesellschafter-Versammlung.

Einer, der die Krisenjahre und die Umstrukturierungen mitgemacht hat, ist Karl-Heinz Fallbacher. "Wir müssen uns halt jetzt selbst die Türe öffnen und das Essen mitbringen", sagt der Vertriebs- und Marketingleiter. Kattanek habe "in Randgebieten auf die Kosten geschaut und die zentralen Verlagsbereiche gestärkt".

"Das war hier am Anfang sicher nicht einfach", sagt der Seiteneinsteiger. Obwohl er früher im Deutschunterricht eher zu den "Querlesern" der Reclam-Lektüre gehörte, wie er selbst zugibt, hat Kattanek den Reclam-Verlag, wenn man so will, gerettet. Heute sind die Aufgaben klar verteilt - in den Schul- und Studienmarkt einerseits und in den Publikums-Markt andererseits. Vorher war vieles davon in einer Position verquickt. "Jetzt sind wir marktorientierter aufgestellt", sagt Fallbacher. Das zahlt sich aus: Seit 2016 schreibt das Unternehmen wieder schwarze Zahlen. Der Umsatz beträgt heute neun Millionen Euro - über den Gewinn schweigt sich das Familienunternehmen aus.

Und während der Gesamtbuchmarkt nach Branchenangaben in den vergangenen Jahren meist eher rückläufig war, verzeichnete Reclam zuletzt ein Umsatzwachstum von sechs Prozent. Was auch daran liegt, dass Kattanek das Angebot konsequent erweitert und verjüngt hat. Heute gibt es auch Witzbücher, Kreativ- und Rätselbücher oder 100-seitige Einführungen in populäre Themen wie Schlager, Che Guevara oder die Royals.

Mit den kleinen gelben Textausgaben macht er immer noch 30 Prozent des Umsatzes. "Das gelbe Heft ist der Grundstock des Verlags", sagt Hauptgesellschafterin Anja Reclam-Klinkhardt. Sie spricht von der "ältesten deutschsprachigen Buchreihe der Welt". Am 10. November 1867 hatte Anton Philipp Reclam junior seine "Universal-Bibliothek" gestartet. Alles begann mit Goethes Faust, "Erster Theil". Ihr Urahn sei ein "unbequemer Hitzkopf", gewesen, aber auch ein "revolutionärer Mann", der für die normalen Bürger das Wissen "zugänglich und erschwinglich" machen wollte. Das war der Beginn einer 150-jährigen Erfolgsgeschichte.

Das Konzept funktioniert bis heute: Alle großen Werke auf kleinem Format, mit engem Druck und weiter Verbreitung. Anfangs kosteten die Billig-Hefte nur zwei Groschen pro Stück. Das Erfolgsgeheimnis war damals auch, dass die Leser kein Abo abschließen mussten. Vielmehr konnten sie sich ihre Universal-Bibliothek nach eigenem Gusto zusammenstellen. Zunächst waren die Heftchen noch beige-braun. Das Knallgelb wurde erst 1970 eingeführt, damals war bei Deutschlehrern die Klassensatzbestellung für ihre Schüler schon längst Usus.

Längst ist das kleine Gelbe ein allgemeingültiges Symbol für die Schulzeit, neben Geodreieck, Zirkel und Tintenfüller. Jeder hat seine Erinnerung an die "Pflichtlektüre"; Reclam selbst fasst seinen zwiespältigen Status so zusammen: "Gehasst, geliebt, gelesen." Oft auch nur angelesen - und dafür umso mehr bekritzelt. Der Münchner Dramatiker Albert Ostermaier erinnert sich mit Schaudern an seine ersten Begegnungen zurück: Er nennt die Klassiker in Telefonbuch-Gelb "Folterinstrumente". Aber die kleinen Dinger hatten für ihn auch ihren Nutzwert. So habe er seinen Caesar in die Lateinschulaufgabe geschmuggelt, um die Übersetzung zu meistern.

Die Zentrale des Reclam-Verlags passt perfekt zu seinen schlicht daherkommenden Produkten

Die Zentrale des Reclam-Verlags in Ditzingen passt perfekt zu seinen schlicht daherkommenden Produkten: Das Gebäude kommt komplett ohne Schnickschnack aus, die Fassade besteht aus grauen Waschbetonplatten mit dunkelbraunen Tür- und Fensterrahmen. Das Gebäude zwischen Bahnlinie und Gewerbegebiet versprüht den spröden Charme der Achtzigerjahre. Alle Bücher werden nach wie vor im Seitengebäude gedruckt. Allerdings von einer Fremdfirma. Die Canon Deutschland Business Services GmbH hatte 2014 die verlustbringende Reclam-Sparte gekauft und mit Digitaldruck modernisiert.

Bis 1970 hatten die Schulklassiker eine beige-braune Farbe. (Foto: Franziska Kraufmann/dpa)

Nun ist Stuttgart und Umgebung ja nicht nur die Region der Premium-Automobile und ihrer Zulieferer, sondern auch der Literatur und der Verlage. Wenn es ums Fahren und Lesen geht, dann legen die Schwaben ihre Bescheidenheit in der Regel komplett ab, was sich etwa in der Redewendung "Heiligs Blechle" manifestiert oder in dem Reim: "Der Schiller und der Hegel, der Uhland und der Hauff, die sind bei uns die Regel, die fallen gar nicht auf." Heute sitzt in der Landeshauptstadt etwa die Klett-Gruppe (mit ihren Töchtern Klett-Cotta, Pons, Auer), die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck ( Die Zeit, Fischer, Rowohlt, Springer Medizin), Thieme und Kohlhammer. Bis 2000 hatte hier die Deutsche Verlags-Anstalt ihre Heimat, ehe sie nach München zog. Und der Reclam-Verlag saß ebenfalls in der Stadt, bis er 1980 nach Ditzingen wechselte. Das ist ein ganz und gar unscheinbarer Vorort von Stuttgart, so schlicht und unprätentiös, dass er ebenfalls perfekt zu den kleinen einfachen Heftchen passt.

Nach der Wiedervereinigung schloss sich der Verlag mit dem lange Zeit parallel existierenden DDR-Staatsunternehmen Reclam aus Leipzig wieder zusammen. Ein Jahrzehnt später brachte Reclam erstmals den Faust als E-Buch heraus. Um das Haus krisenfest zu machen, lässt Kattanek seine Mitarbeiter derzeit mit digitalen Unterrichtsmaterialien experimentieren. Servergestützt und interaktiv soll das Angebot irgendwann sein, wenn die Behörden auf die Lehre mit vernetzten Tablets umstellen. "Die schweren Zeiten sind nie vorbei", sagt Kattanek angesichts der Konkurrenz aus dem Internet und dem E-Book-Bereich. "Aber wir fühlen uns gut aufgestellt."

In einer Hinsicht müssen die Reclam-Häppchen einen Vergleich mit den Digitalbüchern nicht scheuen: Im Urlaubs-Koffer sind zehn Reclamhefte kaum schwerer als ein E-Buch-Lesegerät. Dafür halten sie wahrscheinlich sogar länger. Und zum Verlegen auf dem Boden eignen sie sich auch besser.

© SZ vom 17.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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