Europäische Union:27 Egoisten im Ausnahmezustand

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Ist der Schock der weltweiten Finanzkrise etwa schon vergessen? Der Umgang mit dem Stabilitätspakt zeigt: Den europäischen Staaten geht es um Machtspiele statt um Einigkeit.

Cerstin Gammelin

Europa versucht, sich aus der Krise zu befreien - und liefert gerade ein deprimierendes Schauspiel ab. Autos brennen, Polizisten werden attackiert, Treibstoffdepots blockiert. Die EU-Kommission wird von Wasserwerfern geschützt, wenn sie schärfere Sparpläne und striktere Strafen für hochverschuldete Länder vorschlägt.

Die Europäische Union: zwölf Sterne, 27 Staaten, viele Machtspiele. (Foto: AP)

Von Sofia bis Dublin, von Stockholm bis Rom bestimmen Spardiktate, Reformpläne und die Proteste dagegen den Alltag. Doch trotz der Dramatik ist von einer Europäischen Gemeinschaft kaum etwas zu spüren. Die nationalen Regierungen verstehen den Weg aus der Krise vor allem als Wettlauf um Macht und Einfluss. Was jenseits der eigenen Wahrnehmung geschieht, interessiert immer weniger. Es herrscht Ausnahmezustand in Europa.

Dabei hatte der Schock der globalen Krise die europäischen Staaten zu einem revolutionären Versprechen verleitet. Die 27 Staats- und Regierungschefs versprachen, künftig genau das zu tun, was ihnen bisher nicht gelang: eng zusammenzuarbeiten, Vorhaben gemeinsam abzustimmen, ihre Sozialsysteme zu reformieren, die Arbeitskosten zu senken, den Konsum anzukurbeln und für solide Staatsfinanzen zu sorgen. Die neue, koordinierte Haushaltspolitik sollte allen Europäern ein gutes Auskommen garantieren und den Euro stabil halten.

Die Überarbeitung des Stabilitätspaktes, des Regelwerks, auf dem die gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion basiert, böte eigentlich die perfekte Gelegenheit, die neue Einigkeit unter Beweis zu stellen. Strengere Auflagen, schnellere Strafen, mehr Anreize zum Investieren, so könnte die Reform aussehen.

Stattdessen läuft es wie gehabt. Sobald es um Konkretes geht, sitzen 27 nationale Egoisten am Tisch. Sie streiten darüber, wie streng die Strafen ausfallen sollen, wer darüber entscheidet, ob sie verhängt werden und ob es nicht sogar notwendig sein könnte, permanente Schuldner aus der Währungsunion auszuschließen oder mindestens deren Gläubiger für die Folgen der Krise zahlen zu lassen. Ist kein Kompromiss in Sicht, diktieren die Stärkeren, wo es lang geht.

Riskante Verhandlungstaktik

Auch die Bundesregierung lieferte bisher keine überzeugende Vorstellung ab. Sie will verhindern, dass deutsche Steuerzahler im schlimmsten Falle die Schulden europäischer Partner zahlen müssen. Berlin pocht unnachgiebig darauf, einen Mechanismus einzurichten, der es erlaubt, Gläubiger an den Kosten der Staatskrise zu beteiligen. Der Ansatz ist gut, er könnte im Zweifel allen Europäern nutzen. Nur, überzeugen konnte Berlin seine Partner bisher nicht. Und genau das ist nötig, weil alle Stimmen nötig sind, um die EU-Verträge zu ändern.

Berlin fährt eine riskante Verhandlungstaktik. Zunächst plädierte die Bundesregierung offiziell dafür, Sünder fast automatisch sanktionieren zu dürfen, wogegen logischerweise vor allem die Staaten protestierten, denen zuerst Strafen drohen. Dass Berlin diese Position räumte, weil der härteste Gegner, Paris, plötzlich ebenfalls dafür stimmte, mag überrascht haben. Tatsächlich konnte auch die derzeit stärkste Volkswirtschaft Europas kein Interesse an automatischen Sanktionen haben. Schließlich kann auch der deutsche Aufschwung zu Ende gehen, und, wie 2004, wieder ein blauer Brief aus Brüssel drohen.

Die konkrete Folge der deutschen Kehrtwende ist eine schwächere Reform. Die Regierungen der hochverschuldeten Länder, vor allem Irland, Spanien, Portugal und Italien, sind natürlich froh, dass die automatischen Sanktionen vom Tisch sind. Ob die Freude groß genug ist, damit das Kalkül der Deutschen aufgeht, sich mit dieser durchschaubaren Taktik die Zustimmung der 25 anderen Länder zu einer Vertragsänderung zu sichern, ist eher unwahrscheinlich.

Es wird reformiert wie nie zuvor

Die südliche Hälfte Europas befindet sich in einem traurigen Zustand und erwartet nach wie vor die finanzielle Hilfe des stärksten Partners, mindestens zugesichert auf dem Papier. Wie gut sich damit leben lässt, zeigt der bis 2013 aufgespannte Euro-Rettungsschirm. Er hilft, sich Geld zur Refinanzierung der Staatsschulden zu besorgen. Er verschafft Luft bei den Spar- und Reformpaketen, die die Regierungen auflegen, er verhindert zudem, dass sie womöglich von Massenprotesten aus dem Amt gejagt werden oder der Aufschwung verlorengeht.

Tatsächlich toppen die europäischen Sparpläne alles Dagewesene. Deutschland will trotz des Aufschwungs bis 2014 80 Milliarden Euro sparen, Frankreich kürzt 40 Milliarden, Portugal kappt die Beamtengehälter und will die Mehrwertsteuer auf 23 Prozent erhöhen. In Spanien gehen die Pensionäre leer aus, Italiens Regierung hat Einsparungen von 25 Milliarden Euro angekündigt. Großbritannien will die Ausgaben um ein Viertel kürzen, Bukarest senkt die Beamten- Löhne um 25 Prozent und hebt die Mehrwertsteuer um fünf Prozentpunkte an.

Das alles klingt so dramatisch wie gigantisch. Dennoch hat es nicht gereicht, die Starre der 27 nationalen Egoisten zu lockern. Sie verweigern sich weiterhin der Logik, ein starkes, unabhängiges Gremium zu beauftragen, die Haushaltspolitik zu koordinieren und zu überwachen.

Mit ihrem autoritären Verhandlungsgebaren haben einige große Länder gerade den beiden Institutionen nachhaltig geschadet, die bisher die Reform des Stabilitätspaktes vorangetrieben haben, der EU-Kommission und dem Europäischen Rat. Die Schwäche der anderen sichert zwar kurzfristig die eigene Macht. Um für die Zukunft vorzusorgen, ist ein Gegeneinander aber nicht hilfreich. Auch Versprechen lassen sich so nicht erfüllen.

© SZ vom 23.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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