Europa:"Wir erwarten aus Deutschland mehr"

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Günther Oettinger (links) arbeitet derzeit an der EU-Finanzplanung, rechts im Bild SZ-Chefredakteur Kurt Kister. (Foto: Johannes Simon)

Berlin dürfe sich nicht ins Nationale zurückziehen, warnt EU-Kommissar Günther Oettinger.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Ohne Wechselabsichten, aber voller guter Ratschläge ist Günther Oettinger hier in Berlin: "Von mir ist keine Bewerbungsmappe nach Berlin unterwegs", stellt der für den Haushalt zuständige EU-Kommissar auf die Frage hin klar, ob er ein Ministeramt in der nächsten Regierungskoalition anstrebe. Nein, er habe in Brüssel "eine tolle Mannschaft", mit der er mitten in den Planungen für das nächste Budget stecke. "Ich würde meine Aufgabe verraten, wenn ich jetzt gehen würde".

Nur zuschauen will der frühere CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg allerdings auch nicht. Er hat konkrete Ideen, was in den nächsten Jahren in Deutschland zu tun ist. In seiner Partei und darüber hinaus, im Land und in Europa. Der 64-Jährige hält die Zeit für gekommen, den fälligen Generationenwechsel in seiner Partei einzuleiten - und zwar "über sichtbare Ämter". CDU-Chefin Angela Merkel müsse als mutmaßlich weiterregierende Kanzlerin für Nachwuchskräfte "ein, zwei Spitzenplätze in der Regierung" reservieren, fordert er. Jens Spahn etwa sei erst 37 Jahre alt, aber erfahren für ein Spitzenamt durch 15 Jahre politische Arbeit.

Oettinger geht davon aus, dass auf Bundesebene erstmals ein schwarz-gelb-grünes Regierungsbündnis geschlossen wird. "Jamaika wird kommen. Denn die SPD ist im Kloster und Neuwahlen will keiner". Er empfahl den vier beteiligten Parteien, jeweils ein großes Projekt durchzusetzen, statt überall nur Kompromisse bis zur Unkenntlichkeit zu schmieden. Jamaika müsse in Bildung, Digitales und Infrastruktur investieren. Deutschland habe sich noch immer nicht auf die neuen Zeiten eingestellt. Kürzlich sei er von Hamburg nach Straßburg gefahren, auf der Strecke hätte es mal 3G-Funk im Handynetz gegeben, dann keinen Empfang, dann mal 4G und dann wieder ein Funkloch. So gehe das seit Jahren. "Wenn wir lieber Funklöcher statt Schlaglöcher akzeptieren, werden wir im digitalen Zeitalter Schwierigkeiten bekommen, den Vorsprung bei der Wertschöpfung zu halten", warnte Oettinger.

In ungewöhnlich flammenden Worten forderte der für sein Stakkato bekannte Europa-Politiker die möglichen Koalitionäre auf, über die deutschen Grenzen hinaus zu blicken. "Sollten wir nicht bisschen weniger über Mütterrente reden oder über das letzte deutsche Kohlekraftwerk?", rief er. "Sollten wir nicht lieber den Blick weiten auf die großen Dinge?"

Berlin dürfe sich nicht ins Nationale zurückziehen, warnt er

Deutschland befinde sich im November 2017 auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Es sei die Frage zu beantworten, wie der Vorsprung gehalten werden könne. Die Antwort ist für Oettinger eindeutig: "Europa ist die richtige Betriebsgröße für Deutschland." Es sei beispielsweise sinnlos, die europäischen Außengrenzen lückenhaft zu schützen und dafür die deutschen Landesgrenzen auch noch ein bisschen. Richtig sei es vielmehr, die Außengrenzen lückenlos zu schützen und dafür zu sorgen, "dass es keinen Stau auf der Autobahn zwischen Salzburg und München gibt".

Oettinger warnte dabei vor dem Rückzug Deutschlands ins Nationale. Die Bundesrepublik sei gesamtwirtschaftlich "der größte Profiteur" des Binnenmarktes - müsse sich aber fragen lassen, ob es zu dem nötigen Weitblick über seine Grenzen hinaus bereit sei. Der französische Präsident Emmanuel Macron habe eine große Rede für Europa gehalten und sich als Aktionär und Miteigentümer der EU bezeichnet. Und Berlin? "Wir erwarten in den nächsten vier Jahren mehr aus Berlin für die europäische Idee und weniger Egoismus und Ängstlichkeit", forderte Oettinger. Berlin müsse bereit sein, Geld dorthin zu geben, wo Europa Mehrwert schaffe. Jeder Euro, der von Berlin nach Brüssel gehe, mache sich letztendlich bezahlt. "Wir erwarten aus Deutschland mehr für Europa".

Im Verhältnis zu den Nachbarn sei Berlin "derzeit auf der schiefen Ebene unterwegs". Oettinger erinnerte, Deutschland sei lange "der kranke Mann Europas gewesen", habe zuerst die Defizit-Regeln gebrochen, erst später dann Reformen durchgezogen. Zwar sei die Agenda 2010 "ohne Vater aufgewachsen, weil die SPD nach Zeugung und Geburt die Vaterschaft aufgegeben hat", schob er ein. Deutschland stehe es aber nicht an, nur das operative Geschäft in Europa im Blick zu haben und sich ansonsten in die Beobachterposition zurückzuziehen.

© SZ vom 17.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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