Europa und die digitale Revolution:Kleine Länder, große Sprünge

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Island, Estland und Serbien sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Was sie gemeinsam haben: Regierungen, die die Beziehung von Staat und Bürger komplett digitalisieren. Ein Erfahrungsaustausch.

Von Thomas Fromm, Berlin

Natürlich sind diese drei Länder sehr unterschiedliche Länder, die in sehr unterschiedlichen Ecken Europas liegen. Das eine liegt hoch im Norden, hat nur 340 000 Einwohner, von denen einige sagen, dass sie auf einer Insel voller Elfen und Trolle leben. Das zweite ist mit 1,3 Millionen Einwohnern etwas kleiner als München und war einmal eine Sowjetrepublik. Und in dem dritten Land muss man nicht besonders alt sein, um vom letzten Krieg erzählen zu können: Es ist gerade mal 20 Jahre her, dass hier noch Nato-Bomber Kurs auf Belgrad nahmen.

Drei Länder, drei sehr unterschiedliche Geschichten, und eine große Gemeinsamkeit: Dass sich Island, Estland und Serbien gerade ähnlicher werden, hat etwas mit der Digitalisierung zu tun. Estland gilt seit Jahren als digitales Musterland, Island ist ebenfalls auf dem Weg, und Serbien will gerade ein solches werden. Die Gründe dafür sind allerdings: sehr verschieden.

An einem verregneten Berliner Novembertag nun sitzen die Premierminister und Digitalisierer an einem Tisch im Adlon-Hotel und essen gemeinsam zu Mittag. Man kennt sich, man trifft sich regelmäßig, man nennt sich beim Vornamen. Islands Ministerpräsidentin Katrín Jakobsdóttir, ihr estnischer Kollege Jüri Ratas und die serbische Ministerpräsidentin Ana Brnabić. Wenn solche Menschen zusammenkommen, dann ist das erst einmal sehr analog: Begrüßung mit Handschlag, Erfahrungsaustausch, Small-Talk.

Katrín Jakobsdóttir: "Ich hätte meinen Mann wahrscheinlich nicht kennengelernt, wenn es keine Messengerdienste gegeben hätte. Er mag es nämlich nicht, zu telefonieren." (Foto: Stephan Rumpf)

Jakobsdóttir, 42, ist seit einem Jahr die Premierministerin von Island und hat etwas auf die Beine gestellt, das man hierzulande wohl "Jamaika-Koalition" nennen würde. Sie, die Grüne, regiert ein grün-gelb-schwarzes Bündnis. Sie ist Mutter von drei Söhnen und sie kommt aus einem Land, in dem Frauen der Statistik nach Aufstiegschancen haben wie sonst kaum irgendwo auf der Welt. Im Grunde hat sie zwei große Ziele: Erstens die Abschaffung der ungleichen Bezahlung von Frauen und Männern. So gilt seit Jahresbeginn in Island ein neues Gesetz, das die Unternehmer stärker in die Pflicht nehmen soll, Frauen den gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu bezahlen. Und dann ist da vor allem: die Digitalisierung. Island sei schon "ein sehr besonderes Land", sagt Katrín Jakobsdóttir. "Trends verbreiten sich sehr schnell, das kann schon mal dazu führen, dass fast jeder im Land das gleiche Weihnachtsgeschenk bekommt", sagt sie. "In Zeiten der Finanzkrise 2008 bekam jeder einen isländischen Wollpullover geschenkt - das war gerade angesagt." Sie wünscht sich gerade deshalb aber auch, "dass wir in unserem kleinen Land noch viel diversifizierter werden".

In einem Land, in dem so viele Menschen leben wie in einer mittelgroßen deutschen Stadt, lässt sich eine Digitalisierung schneller umsetzen als, zum Beispiel, in Deutschland. 95 Prozent der Bevölkerung Islands hat Zugang zu Breitbandinternet, die Zahl der Start-ups wächst rasant. Die Ministerpräsidentin selbst nutzt soziale Medien vor allem als Politikerin, privat rede sie lieber direkt mit den Menschen. Ihren Mann, der nicht so gerne telefoniere, hätte sie ohne Messenger-Dienste aber kaum kennengelernt, erzählt sie.

Das Land, das einst vor allem vom Fischfang, von Aluminium und vom Tourismus lebte, ist mit seinen vielen heißen Quellen und Geysiren in den vergangenen Jahren eine Mine der besonderen Art geworden: In großen Serverfarmen im Süden werden die neuen Einheiten der Kryptowährung Bitcoin geschürft. Island gilt als das Eldorado der Elektro- Miner: Das Land ist per se kühl, was es einfacher macht, die Rechenzentren zu kühlen. Dazu kommen Unmengen von billigem Strom aus erneuerbaren Energien.

Ana Brnabić: "Serbien war nicht unter den Gewinnern der dritten industriellen Revolution. Deshalb sollten wir dafür kämpfen, zu den Gewinnern der vierten Revolution zu gehören." (Foto: Stephan Rumpf)

In der Welt von Ana Brnabić geht es um ganz andere Dinge: Die serbische Ministerpräsidentin hat gerade damit begonnen, ihr Land zu digitalisieren. Sie sagt: "Serbien war nicht unter den Gewinnern der dritten industriellen Revolution, deshalb sollten wir dafür kämpfen, zu den Gewinnern der vierten Revolution zu gehören."

Serbien? Ja, Serbien. "Sie werden wahrscheinlich glauben, dass das merkwürdig ist", sagt die Ministerpräsidentin aus Belgrad. 100 Millionen Euro investiert das Land in Infrastrukturen und Start-ups. "Kleinere Länder wie wir können effizienter sein als andere", lobt sie. Bevor die 43-Jährige in die Politik ging, war sie unter anderem in der Privatwirtschaft unterwegs. Das hilft ihr nun, dieses Land, das jahrzehntelang von Stahl, Bergbau und seinen Staatskonzernen lebte, zu modernisieren. Es ist ein großer Sprung für ein Land, in dem die Ruinen der Bombenangriffe von 1999 noch mitten in der Hauptstadt zu sehen sind.

Der Premierminister Estlands, Jüri Ratas, ist schon dort, wo andere erst noch hin wollen. Er hat sein Land bereits komplett digitalisiert. Es gibt vieles, bei dem das 1,3-Millionen-Einwohner-Land Estland Vorreiter war.

Jüri Ratas: "Als Bürger muss ich sicher sein können, dass meine Daten geschützt sind. Deshalb kann jeder Bürger jederzeit online kontrollieren, ob und wer seine Daten angesehen hat." (Foto: Stephan Rumpf)

Es begann damit, dass die Russen auszogen und Estland allein zurückblieb. Der Rubel weg, das russische Bankensystem weg - es wurde rasch mit dem Computer bezahlt statt mit Schecks und aufwendigen Formularen. Die neue digitale Ordnung des kleinen Estland hat also viel mit dem Zusammenbruch eines alten, großen Reiches zu tun. Zuerst kam in den frühen Neunzigern das Online-Banking für alle, dann kamen zwischen Mitte und Ende der Neunziger die Schulen und die öffentliche Verwaltung an die Reihe. Die Esten nannten das Tiigrihüpe: Tigersprung.

Beim E-Government ist Estland heute das Rollenmodell in Europa: Jeder Bürger des Landes hat seit 2002 eine elektronische Identität - wenn man so will, ein staatliches Nutzerprofil mit allen wichtigen Daten. Über das Konto lässt sich vieles regeln im Verhältnis zu Behörden und Dienstleistern, von der Steuererklärung bis zur digitalen Gesundheitsakte. Wer Organspender sein will, kann das mit einem Klick bestätigen. Wer es nicht sein will, lässt es bleiben. Unterm Strich, sagen Experten, können Esten heute 99 Prozent aller öffentlichen Dienstleistungen erledigen, während sie zuhause in ihrem Wohnzimmer sitzen.

Allerdings: Dieser ehemalige Teil des Sowjet-Reiches hat auch Probleme mit Cyberangriffen. Wie groß die Gefahr ist, das bekamen die Esten 2007 zu spüren, als das Land Opfer einer massiven Computerattacke wurde. Seitdem habe das nicht aufgehört, nur die Abwehr sei ausgeklügelter geworden, sagt Ratas. "Ich denke, es gibt jede Sekunde eine Cyberattacke auf Estland." Das könnte die Bevölkerung nun zum Anlass nehmen, die Uhr wieder zurückdrehen zu wollen in die Zeit, als das öffentliche Leben noch nicht von Computern organisiert wurde. So ist es aber nicht. Die Bürger hätten Vertrauen in das System, sagt der Premierminister. Allerdings: "Wir müssen uns auf Fake-News vorbereiten und auf das, was aus dem Osten an unsere Grenzen kommt", warnt Ratas. Deshalb schützt man sich mit IT-Backups und ausgeklügelten Sicherheitssystemen, und das zeigt: Wer ein Land komplett digitalisiert, ist niemals fertig und in diesen Zeiten erst am Anfang. In den Jahren danach geht es dann darum, das System immer wieder sicherer zu machen.

Deshalb macht sich auch Katrín Jakobsdóttir Sorgen um ihr kleines Land. "Wir müssen die Cyber-Security ausbauen und uns wehren können", sagt sie. Gerade das elektronische Gesundheitssystem Islands sei Chance und Risiko zugleich: "Jeder, der die Möglichkeit hat, kann Ihnen die Krankenhäuser Ihres Landes lahmlegen, das ist riskant." Je mehr digital gemacht wird, desto mehr muss in Sicherheit investiert werden.

Mit Krisen kennt sich Katrín Jakobsdóttir aus. Als sie Karriere in der Politik machte, stand ihr Land Kopf. Die Isländer diskutierten über ihre Banker, die sich vor der Finanzkrise mächtig verzockt hatten. Nun bedrohte die Krise die Existenz eines ganzen Landes: Die drei größten Banken lagen schief - "einer unserer Weltrekorde", sagt die Links-Grünen-Chefin Jakobsdóttir. Der Staatsbankrott drohte, damals beschloss man die Verstaatlichung des Finanzsektors. Finanzen und Fischerei würde es zwar immer geben - aber Digitalisierung und neue Start-ups sollten das Land erneuern.

Dabei geht es nun nicht nur um schnelle Internetverbindungen und Daten, sondern auch und vor allem um die Beziehung zwischen Bürger und Verwaltung. Was bedeutet das alles für die Bürger, was für den Staat, und was für das Zusammenleben von allen? Für Ana Brnabić ist die Digitalisierung ein Weg, das Land mehr an die EU anzunähern. Ein Beispiel: Ausschreibungen in der Bauindustrie. "Der Prozess bei Baugenehmigungen war immer auch einer der korruptesten Prozesse", sagt die Serbin. "Indem wir die Verfahren elektronisch durchführen, bei denen Bieter ihre Pläne im Netz hochladen müssen, ändert sich das." In Island, sagt Katrín Jakobsdóttir, würden die meisten Menschen und Unternehmen inzwischen eine elektronische Steuererklärung einreichen. "Das hat die Beziehung der Menschen zu ihren Steuerbehörden verbessert, auch weil der Service besser geworden ist."

Nicht überall geben Bürger ihre elektronischen Daten gerne her - in Deutschland etwa gibt es große Vorbehalte von Datenschützern. Wenn die Beziehungen zwischen den Menschen und ihren Verwaltungen digitalisiert werden, braucht es vor allem: Transparenz und Vertrauen. "Wir müssen die elektronische Sicherheit der Bürger genau so schützen, wie wir ihre Sicherheit auf der Straße schützen", fordert der estnische Premierminister. Er hat von allen hier die längste Erfahrung mit E-Government und weiß auch, dass die Dinge mal schiefgehen können. So im vergangenen Jahr, als über eine Sicherheitslücke bei den elektronischen Personalausweisen, den eID-Karten des Landes, berichtet wurde: Wenn die Hälfte der Einwohner Angst vor einem Identitätsdiebstahl haben muss, dann braucht es nicht nur viel Technik-Einsatz, sondern auch eine Menge Vertrauensarbeit. "Als Bürger muss ich sicher sein können, dass meine Daten nicht offen liegen", sagt Ratas. "Deshalb kann jeder Bürger Online nachsehen, ob und wer seine Daten angesehen hat."

Drei Länder, drei Wege, und eine sehr interessante These. Katrín Jakobsdóttir sagt: "Früher lagen persönliche Papiere und Dokumente in Behördenräumen und Praxen. Ich glaube nicht, dass das sicherer war."

© SZ vom 14.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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