Europa:In der Falle

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In den 15 Jahren seit der Osterweiterung der EU haben die neuen Mitgliedsstaaten im Osten wirtschaftlich schnell Fortschritte gemacht - aber das hat auch einen Preis. Die Grundwerte der Europäischen Union haben einige nicht verinnerlicht.

Von Louis Groß, München

15 Jahre sind seit der Osterweiterung der Europäischen Union vergangen. Die meisten der neuen Mitglieder haben sich seitdem wirtschaftlich gut entwickelt. Die erstarkenden Nationalismen und der kontinuierliche Abbau des Rechtsstaates - vor allem in Polen und Ungarn - relativieren die politische Bilanz jedoch. Zwischen diesen beiden Entwicklungen gibt es einen Zusammenhang, sagt der frühere EU-Kommissar László Andor bei einem Vortrag in der Reihe Münchner Seminare des Ifo-Instituts und der Süddeutschen Zeitung.

"Es ist keine große Überraschung, dass die Wirtschaftskraft der östlichen Staaten im europäischen Vergleich noch hinten ansteht", so Andor, der von 2010 bis 2014 EU-Kommissar war und heute Wirtschaftspolitik an der Corvinus-Universität in Budapest lehrt. Ein weiter Weg sei noch zu gehen, bis diese Länder wirtschaftlich aufgeschlossen hätten. Aber: "Es gibt eine langsame aber stetige Annäherung."

Der Aufholprozess habe jedoch einen Preis, sagte Andor. Niedrige Löhne und eine geringe Unternehmensbesteuerung sollen die osteuropäischen Länder als Produktionsstandorte attraktiv machen - vor allem für Firmen aus dem Ausland. Die logische Konsequenz: Kapital fließt von West nach Ost, während Arbeit in die entgegengesetzte Richtung abwandert. Weil die Staaten durch geringe Steuereinnahmen wenig Spielraum hätten, fehle es an Investitionen in Bildung und im Gesundheitswesen. "Das verhindert besser ausgebildete Arbeitskräfte und Innovationen. Die Bevölkerung steckt in einer Falle, aus der es schwer auszubrechen ist", sagte Andor.

Besonders in Ungarn zeige sich die Ambivalenz des Wachstumsmodells. Hier habe sich die Schwächung des Sozialstaates beschleunigt: Arbeitslosenhilfe, Kindergeld, Bildung - überall wurde gestrichen. Besonders schlimm sei das sogenannte "Sklavengesetz", das Anfang des Jahres in Kraft trat. Das Gesetz erlaubt es den Arbeitgebern, ihren Mitarbeitern bis zu 400 Überstunden im Jahr anzuordnen, der Lohn dafür kann bis zu drei Jahre lang hinausgezögert werden. Die Zahl der Ungarn, die das Land verlassen, nehme weiter zu, es herrsche deshalb Fachkräftemangel, der wiederum dazu führt, dass andere Überstunden machen müssen. Ein Teufelskreis.

Nicht unerheblich ist schließlich die Frage der Integration in die Euro-Zone. Andor unterscheidet zwischen jenen Ländern, die in die Währungsunion wollen, aber die Bedingungen dafür, die Maastricht-Kriterien, nicht erfüllen - wie Rumänien, Bulgarien und Kroatien. Und Ländern, die ökonomisch stark genug wären, denen der politische Wille jedoch fehlt - wie Polen, Ungarn und Tschechien. Andor befürchtet, dass sich dadurch eine Langzeit-Peripherie von Nicht-Euro-Ländern bilden könnte.

Was muss sich ändern? EU-Kommission, Parlament und die EU-Partnerstaaten sollten Andor zufolge eine Wachstumsstrategie entwickeln, die es den Mitgliedsländern in Osteuropa ermöglicht, die Vorgaben von Maastricht zu erfüllen, aber gleichzeitig auch dazu beiträgt, die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, wie sie 1993 vom Europäischen Rat in Kopenhagen festgelegt wurde, zu erhalten. Keine leichte Aufgabe.

© SZ vom 02.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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