Eskapismus:Ganz weit oben

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Für das Universum an der Altbaudecke: Der "Homestar", ein sogenanntes Heimplanetarium, in Aktion. (Foto: Sega Toys)

Warum junge Menschen unter künstlichen Sternen entspannen.

Von Berit Dießelkämper

Wenn alles zu viel und zu groß wird, muss man sich manchmal noch Größeres suchen, um wieder klarzukommen. Das Universum zum Beispiel. Offenbar liegen in diesen Wochen viele hippe junge Menschen unter den Lichtverschmutzungskuppeln deutscher Großstädte in ihren Paletten-Betten und lassen sich zum Einschlafen das Universum an die Altbaudecke projizieren. Sogenannte Heimplanetarien, also tragbare Sternenprojektoren, sind das neue große Ding. In den sozialen Medien wird jedenfalls zahlreich vor ihnen posiert und unter ihnen gestreamt. Aber warum eigentlich?

Vielleicht, weil es gerade jetzt so eine wohltuende Vorstellung ist, ganz weit oben und ganz weit draußen zu sein. Gut, das Surren des kleinen Roboters stört ein bisschen, obwohl in der Beschreibung "lautlose Rotation zum Träumen" steht. Dafür fliegt bei aktivierter "Sternschnuppenfunktion" alle 30 Sekunden eine Sternschnuppe vorbei. Die meisten Heimplanetarien haben eine Kugelform, sie ähneln ein bisschen "Wall-E", dem Roboter aus dem gleichnamigen Film, der nach dem Ende der Menschheit zurück auf die Erde kommen und aufräumen muss.

Erfunden hat das Heimplanetarium der japanische Ingenieur und Planetarium-Designer Takayuki Ohira. Seit 2004 steht er für ein Profi-Gerät im Guinnessbuch der Rekorde: Der "Megastar" kann 5,6 Millionen Sterne abbilden. Bei Marktführer Sega Toys will man zu Zahlen nicht viel sagen, nur so viel: Der Verkauf der Heimplanetarien habe sich in der Corona-Krise "positiv entwickelt". Und: In den vergangenen eineinhalb Jahren habe man sich bemüht, die Heimplanetarien auf Instagram zu platzieren und von Influencern bewerben zu lassen - offenbar mit Erfolg.

Das Heimplanetarium ist also nicht nur der nächste Schritt des Astro-Hypes der vergangenen Jahre, in dem sich immer mehr Menschen ihre Sternzeichen in die Dating-Profile schreiben. Es ist auch Teil der sogenannten "Experience Economy", bei der mehr der Verkauf von Erlebnissen im Vordergrund steht als der von Waren. Bereits 1998 beschrieben die amerikanischen Unternehmensberater Joseph Pine und James Gilmore Realitätsflucht als einen der vier Bereiche der Erlebnisökonomie. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erklären damit auch den anhaltenden Boom der Gaming-Branche, der sozialen Medien oder des Endlosschauens von Serien: Die Konsumenten nehmen nicht nur teil, sie tauchen vollständig in das Produkt ein. Sie verabschieden sich für eine kurze Zeit aus ihrem echten Leben. Und nun gibt es eben den Sternenhimmel für Zuhausebleiber und damit auch eine Flucht in die Weiten des Universums.

Hinter alldem steht - davon muss man in dieser andauernden Pandemie ausgehen - die Hoffnung, sich und seine Probleme relativieren zu können. Mit Blick ins Universum wird alles ganz klein, weil es da draußen so viel mehr gibt. Möglicherweise eine bessere Welt mit netteren Lebewesen und ohne Clubhouse. Das Heimplanetarium schafft einen Ort, an den die Menschheit fliehen kann, während irgendjemand anders die Erde aufräumt.

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