Digitale Informationsfülle:Vielfalt im Kopf

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Immer stärker beeinflussen Gefühle die Meinungsbildung der Menschen, wo früher rationale Argumente zählten - mit paradoxen Ergebnissen.

Von Elisabeth Dostert, München

Twitter, Facebook, Google, jede Menge Blogs, Magazine, Zeitungen, Fernsehen und Radio - Informationen im Überfluss. Das große Angebot in einer zunehmend komplexen Welt macht es den Menschen aber offenbar nicht leichter, klare Entscheidungen zu fällen. "Sie ändern ihre Meinung öfters und äußern sich häufig paradox", fand das Marktforschungsunternehmen Rheingold Salon in einer repräsentativen Studie heraus. "Heute so, morgen so", heißt denn auch deren Titel. "Je nach Situation und Laune, leisten sich immer mehr Deutsche gleichzeitig in sich widersprüchliche Auffassungen", sagt Jens Lönneker, Psychologe und Geschäftsführer des Rheingold Salons.

Die Meinungsvielfalt im Kopf belegen viele Umfragen. Viele Menschen wünschen sich erneuerbare Energien, aber die Stromtrasse darf nicht durch den eigenen Vorgarten führen. Gesellschaftliche Fragen des Zusammenlebens werden mit persönlichen Wünschen und Ängsten verquickt. Viele Verbraucher wünschen sich Biomilch von Kühen aus Weidehaltung. "Das ländliche Idyll wird als wohltuender Gegenentwurf zum eigenen ungeliebten und stressigen Arbeitsleben empfunden", sagt Lönneker. Die Lebensmittelindustrie müsse besonders oft als Sündenbock herhalten. Nichtsdestoweniger greife eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung dann doch zur billigen Milch aus Massentierhaltung, die sie eigentlich emotional ablehnt.

In Auftrag gegeben hat die Studie die Heinz-Lohmann-Stiftung, die nach dem Gründer der PHW-Gruppe benannt wurde. Zu ihr gehören Marken wie Wiesenhof und Bruzzzler. Für die Studie wurden tiefenpsychologische Interviews mit Entscheidern aus Wirtschaft, Nicht-Regierungs-Organisationen Politik, Verbänden und Medien geführt und tausend Menschen online befragt.

"Die irrationalen Koexistenzen sind ein Kind unserer Zeit", sagt Lönneker. Ihre Ursache sieht er darin, dass seit Jahren und nicht zuletzt durch die digitalen Medien die öffentliche Meinungsbildung immer stärker durch Emotionen beeinflusst wird, wo früher rationale Argumente zählten. "Die Bürger interessieren sich immer mehr für das Privatleben öffentlicher Personen." 79 Prozent der Befragten mögen Politiker, die auch mal Gefühle zeigen. Die höchste Glaubwürdigkeit genießen mit 80 Prozent die Betroffenen eines Problems, "also diejenigen, die am stärksten verwickelt sind". Die geringste Glaubwürdigkeit haben Wirtschaft (25 Prozent) und Politik (20 Prozent), weil sie, so empfanden das die Befragten, die öffentliche Meinung gegen die emotionalen Befindlichkeiten der "kleinen Leute" gestalten wollen.

"Im Reich der Gefühle können Widersprüche spielend nebeneinander existieren. Die Regeln der Logik gelten hier nicht", sagt Lönneker. Die Diskrepanz zwischen Vernunft und Lust werde nachträglich legitimiert. Als Ausrede für das Fertiggericht dient dann das Argument, mehr Zeit für die Kinder zu haben. Auf gesellschaftlicher Ebene führe die Psychologisierung zu einem Entwicklungsstillstand. Jede tragende Entscheidung rufe Gegner und lange gerichtliche Auseinandersetzungen hervor. "Wer heute in einer Demokratie etwas bewegen will, muss in der Öffentlichkeit Verstand und Gefühle ansprechen."

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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