Deutschland:Das Haushalts-Dilemma

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Höhere Mehrwertsteuer, ein zusätzlicher Solidaritätszuschlag, steigende Rentenbeiträge - die Spekulationen über die Liste der Grausamkeiten aus Berlin werden immer verwirrender.

Nikolaus Piper

Bedrückend daran ist, dass einem das alles bekannt vorkommt. Genau so begann Rot-Grün im Herbst 2002, mit einer Orgie von Steuer- und Abgabenerhöhungen, genauer: mit deren Ankündigung, Rücknahme und Wiederankündigung. Die Stimmung im Lande ging in den Keller und die Regierung hatte ihren Rückhalt in der Bevölkerung verloren, noch ehe sie richtig angefangen hatte. Derzeit scheinen es die Groß-Koalitionäre genau darauf anzulegen.

Das Erbe von Keynes

Vor allem fällt ein Widerspruch auf: Im Wahlkampf war von Arbeitsplätzen die Rede, von niedrigen Steuern und Wirtschaftswachstum. Jetzt geht es anscheinend nur noch um die Konsolidierung des Bundeshaushalts; in der allgemeinen Stimmung der Hysterie unter den Finanzpolitikern spielen die Auswirkungen des eigenen Tuns auf die allgemeine Wirtschaft keine Rolle mehr. Im Wahlkampfprogramm von Angela Merkel sollte die Mehrwertsteuer erhöht werden, um die Arbeitslosenbeiträge zu senken. Das war schon bedenklich genug. Doch jetzt dienen die Erhöhungen nur noch dazu, um den Haushalt zu stopfen.

Es gibt ein unvermeidbares Dilemma bei der Haushaltskonsolidierung: Der Finanzminister muss den Bürgern entweder bisher geleistete Zahlungen vorenthalten oder mehr Geld abknüpfen. In beiden Fällen haben die Betroffenen weniger Einkommen, um zu konsumieren und zu investieren. Sie können also auch weniger Steuern zahlen, womit sich die Lage des Haushalts wieder verschlechtert und zumindest ein Teil des Konsolidierungseffektes dahin ist.

Der Ökonom John Maynard Keynes hat gelehrt, dass sich diese Wirkung durch Multiplikatoreffekte potenziert, sodass sich der Staat im schlimmsten Fall noch weiter in die Krise hineinspart. Umgekehrt kann ein steigendes Staatsdefizit der erste Schritt auf dem Weg aus der Krise sein. In Zeiten überschuldeter Haushalte sind diese Lehren nicht mehr sehr populär. Und es gibt auch ein starkes Gegenargument gegen Keynes aus der ökonomischen Zunft: Die Steuerzahler wissen mittlerweile aus leidvoller Erfahrung, dass die Staatsschulden von heute die Steuern von morgen sind. Sie werden also, anders als Keynes dies vermutete, die künftigen Belastungen bereits heute antizipieren und entsprechend weniger Geld ausgeben, womit der Multiplikatorprozess schnell abbrechen würde.

Die Theorie geht auf den klassischen Ökonomen David Ricardo zurück. Der argumentierte sinngemäß so: Wenn der Staat sich in diesem Jahr um eine Million Euro verschuldet und zur Begleichung der Schuld im nächsten Jahr die Steuern um eine Million Euro erhöht, dann ist für den Steuerzahler die heutige Verschuldung der künftigen Steuer äquivalent und hat daher keine Auswirkungen auf Konsum und Arbeitseinsatz. Umgekehrt mindert die Konsolidierung des Haushalts die Furcht vor neuen Steuern und ermutigt zu mehr Konsum und Investitionen. Den Gedanken der "ricardianischen Äquivalenz" haben im 20. Jahrhundert Ökonomen wie James Buchanan und Robert Barro aufgegriffen. Und diese Theorie steht, wenn auch sicher meist nicht bewusst, im Hintergrund, wenn Politiker davon reden, dass die Konsolidierung für "Vertrauen" sorgen und damit Wachstum und Beschäftigung fördern werde.

Langer Atem

Das Problem ist, dass niemand weiß, in welchem Ausmaß die ricardianische Äquivalenz gilt. Ricardo selbst hatte Zweifel an der empirischen Relevanz seiner Theorie geäußert. Und alle Erfahrungen zeigen, dass der Keynes'sche Multiplikator äußerst wirksam sein kann: Die Finanzierung der deutschen Einheit auf Pump wirkte nach 1990 zunächst wie ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Die amerikanische Wirtschaft läuft unter anderem auch deshalb so gut, weil Präsident George Bush riesige Staatsdefizite zugelassen hat und so massiv Geld in den Kreislauf pumpt. Umgekehrt hat Hans Eichel die ganze Sparpolitik der vergangenen Jahre nichts gebracht. Die Lage des Etats ist schlimmer denn je.

Allerdings ist auch der Umkehrschluss von Gewerkschaften und Linkspartei falsch: Der Staat soll sich kräftig verschulden und das Geld im Übrigen bei den Reichen holen, dann wird alles gut. Japan hat im Laufe seiner langen Krise in den neunziger Jahren einen riesigen Schuldenberg aufgehäuft, ohne Stagnation und Deflation beheben zu können. Der Grund war, dass die Regierung nicht den Mut zu grundlegenden Reformen hatte. So ganz abwegig ist die Sache mit Ricardo also auch nicht.

Die Lösung des Dilemmas ist theoretisch einfach, politisch aber schwer umzusetzen: Konsolidierung braucht einen langen Atem und sie muss kombiniert werden mit Reformen, die die Angebotsbedingungen in der Wirtschaft verbessern. Die Langfristigkeit der Sparpolitik sorgt dafür, dass die Nachfrage nicht zu sehr eingeschränkt wird, die Reformen fördern das Wirtschaftswachstum und sorgen - im Sinne Ricardos - für Vertrauen. Fatal wäre dagegen ein brachialer Sparkurs ohne Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen.

Der CDU-Finanzpolitiker Friedrich Merz sagte einmal sehr treffend, die Probleme der öffentlichen Haushalte könnten durch Konsolidierungspolitik alleine nicht gelöst werden. Man wünscht sich, Angela Merkel hörte in diesem Punkt auf ihren Parteifreund, auch wenn sie ihn im Übrigen nicht leiden kann.

© SZ vom 29.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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